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Die Welt ist tausend Schritte lang. Jedenfalls in Courtillon, einem verschlafenen Nest im Süden Frankreichs. Hier gibt es gerade mal zwei Straßen. Und eine Wiese am Fluss, wo ein großer Freizeitpark entstehen soll. Diese Neuigkeit rüttelt die Dorfbewohner jäh aus ihrem Dornröschenschlaf. Alte, sehr alte Geschichten werden wieder lebendig, es kommt zum Streit. Es ist wie ein Feuer, das um sich greift. Ein aus der Kontrolle geratenes, gewaltiges Johannisfeuer.

Produktbeschreibung
Die Welt ist tausend Schritte lang. Jedenfalls in Courtillon, einem verschlafenen Nest im Süden Frankreichs. Hier gibt es gerade mal zwei Straßen. Und eine Wiese am Fluss, wo ein großer Freizeitpark entstehen soll. Diese Neuigkeit rüttelt die Dorfbewohner jäh aus ihrem Dornröschenschlaf. Alte, sehr alte Geschichten werden wieder lebendig, es kommt zum Streit. Es ist wie ein Feuer, das um sich greift. Ein aus der Kontrolle geratenes, gewaltiges Johannisfeuer.
Autorenporträt
Charles Lewinsky, geb. 1946, lebt in Zürich und in der Franche-Comté. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor, seit 1980 als freier Autor. Er schreibt Romane und Theaterstücke und ist der Autor vieler erfolgreicher Fernsehsendungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2001

Heiliger Johannes, rette dich selbst
Provinz-Revolution: Charles Lewinskys Roman "Johannistag"

Wenn binnen Jahresfrist Herrscher stürzen und Reiche implodieren, versagt das übliche Zeitmaß. Auch das Dorf Courtillon ist Schauplatz einer solchen Revolution gewesen, die von August bis Juni währte. Erst die Chronistenpflicht eines deutschen Gymnasiallehrers macht sie der Welt bekannt.

Der "deformierte Professionelle" kam in die südfranzösische Provinz als ein Fremder. Er hoffte, von ihr gerade so kurz unterhalten zu werden, wie im Wartezimmer ausgelegte Zeitschriften die Patienten unterhalten. Fremd aber konnte der Gast in seinem unvollendeten Steinhaus nur bleiben, solange er Kontakt mit der Heimat und der jungen Frau hielt, die allein jene ausmacht. Als ein Brief diese Verbindung endgültig kappt, wird aus dem Fremden ein Chronist und aus der Chronik wieder "meine eigene Geschichte, verdreht und verrenkt". Das winzige Dorf weigert sich, dem Fliehenden die ersehnte Ablenkung zu bieten. Statt dessen kehren die Erfahrungen des Lehrers wieder auf den Gesichtern und in den Lügen der Leute von Courtillon.

Seit die fünfzehnjährige Valentine aus dem Fenster sprang und ihre Mutter den Nachbarn des Lehrers, Jean Perrin, mit dem sie vor vier Jahren ein kurzes Verhältnis hatte, lautstark zum Schuldigen erklärte, "scheinen die Uhren schneller zu laufen". Valentine, eine fallsüchtige Kettenraucherin mit Engelsgesicht, verbindet sich bald darauf durch ein sadomasochistisches Ritual nebst Blutschwur mit zwei Jungen aus dem nahe gelegenen Erziehungsheim, damit diese Jean verprügeln. Wenig später wird die älteste Bewohnerin des Dorfes ermordet, und Jean versucht den Bürgermeister zu erpressen. Diese Verbrechen rühren an Courtillons Vergangenheit während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Daß dem Lehrer kurz nach seiner Ankunft eine Begebenheit aus dem neunzehnten Jahrhundert erzählt wurde, "als ob sie sich gestern ereignet hätte", war ein Vorbote solch revolutionärer Zeitenkollision.

Der namenlose Pädagoge zog unfreiwillig in die "Sandkastenwelt". Das "Dorf der alten Leute, die sich ihre Erinnerungen um die Schultern legen wie warme Mäntel", nimmt einen zwangspensionierten Frührentner auf. Hätte dessen Liebe nicht einer minderjährigen Schutzbefohlenen gegolten, wäre Courtillon weiterhin unter sich geblieben. Nun jedoch leckt ein Langzeitgast seine Wunden und pflegt seine Eitelkeit inmitten einer ähnlich deformierten Umgebung. Der 319 Seiten lange Brief, gerichtet an das Mädchen, an sich selbst und endlich an die Nachwelt, ist Lobgesang und Nekrolog in eigener Sache. Viel hält der Ich-Erzähler sich zugute auf seine Amour fou und auf die akademische Intelligenz. Am Selbstmitleid berauscht er sich wie an der französischen Sprache, die etwa, wörtlich übersetzt, einen Dietrich Nachtigall nennt, eine Halskrause nach der Göttin der Weisheit bezeichnet und von einem guten Wein sagt, er "geht runter wie ein kleiner Jesus im Samthöschen".

Die Dorfgemeinschaft erscheint dem Einzelgänger von Tag zu Tag deutlicher als eine Variante der eigenen Psyche. Mademoiselle Millotte, die mit ihrem "altersfleckigen Vogelgesichtchen alles sieht und nichts vergißt", will ihre kleine Welt überschaubar halten. Deshalb spielt sie dasselbe "Zusammensetzspiel" wie der nicht minder neugierige Lehrer, der Detail um Detail aneinanderreiht, damit die Lösung zugleich über ihn selbst Auskunft gebe.

Perrin, ein hauptberuflicher Bastler und Tagträumer, wohnt nicht zufällig dem Lehrer am nächsten. Sein Geburtstag fällt mit dem des Täufers zusammen, der deshalb Saint Jean gerufene Familienvater ist die travestierte Abart des Lehrers. Der heilige Johann redet viel, er sammelt Worte mit derselben Leidenschaft wie Werkzeuge oder Holzscheite, da nur Dinge Gewißheiten schenken. Vor allem aber kämpft er für seine Heimat, will die Ansiedlung eines Kieswerks verhindern und schreckt selbst vor Erpressung nicht zurück.

Der Kampf, den Jean ficht, ist ganz nach des Lehrers Geschmack. Nie, so schreibt er, dürfe das Paradies am Fluß begradigt oder trockengelegt werden, nie die kapitalistische Ordnung das schöne Chaos verdrängen, nie auch dürften die kommerziellen Interessen des Weinhändlers Bertrand, der "lacht, als ob er es in einem Kurs gelernt hätte", das letzte Wort behalten. Genauso aber kommt es. Jeans doppelter Einsatz, seinen guten Ruf trotz Valentines Fenstersturz zu behalten und das Flußidyll vor den Baggern zu retten, war vergeblich. Der Lehrer notiert die Niederlage Jeans mit der routinierten Melancholie dessen, der seine Feigheit folgenlos durchschaut. Selbst die bisher letzte Spur aufklärerischen Furors fehlt, die unverdrossen repetierte Rede von der Maschine Mensch und ihren erfundenen Religionen, verleugneten Wahrheiten. Der Chronist, der ein Fremder war, ist ein Mitschuldiger geworden.

Der Zürcher Drehbuchautor und Regisseur Charles Lewinsky hat 1991 einen zynischen "Fernseh-Roman" und sechs Jahre danach den "Roman einer Talkshow" veröffentlicht. Beide ließen ein derart fulminantes Werk wie dieses nicht erwarten. Zwar funktioniert darin die Spannungsdramaturgie lehrbuchmäßig, manchmal auch knirscht die mechanische Abfolge von Liebesleid und Spürsinn eher, als daß die biographische Rückschau das fremde Jetzt erhellte. Doch weisen die leichtfüßige Beschreibung eines Dutzends durchweg unverwechselbarer Charaktere auf engstem Raum und die von Trauer grundierte Deutung ländlicher Ausnahmezustände Lewinsky als einen sprachmächtigen und klugen Romancier aus. Zudem ist die Kapitulation des Lehrers vor seiner idealisierten Vergangenheit ein Abgesang auf jene Generation, die Revolutionen erhoffte und Selbstgerechtigkeit erntete.

ALEXANDER KISSLER

Charles Lewinsky: "Johannistag". Roman. Haffmans Verlag, Zürich 2000. 319 S., geb., 39,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein großes Lob von Manfred Papst für Lewinsky, den "Quotenmatador" des Schweizer Fernsehens, der durch seine beliebten Sitcoms "Fascht e Familie" und "Fertig luschtig" jedem Kind ein Begriff ist. Aber nicht dafür lobt ihn Papst, das Lob gilt dem "sensiblen, umsichtigen und eigenständigen Erzähler" dieser Geschichte. Darin geht es um ein Dorf, dessen Menschen und politische Konflikte der Held, ein wegen einer Liebesgeschichte mit einer Schülerin entlassener Lehrer, in Briefen an seine Geliebte beschreibt. Und obgleich irgendwann Handlung und Kriminalistisches die Erzählung übernehmen, zeigen, so Papst, die ersten 90 Seiten, was Lewinsky "wirklich kann", nämlich eine kleine Welt voll tiefer, böser Erinnerung handwerklich, sprachlich und dramaturgisch überzeugend zu schildern. Sein Urteil: Lewinsky ist "auf dem Weg zur großen Form".

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