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Ossip Mandelstam ist ein Mythos. Er gilt in Rußland und weltweit als Märtyrer der Poesie, der für seine Dichtung mit dem Leben bezahlte. Vor allem bekannt ist er als politisch Verfolgter und als Autor eines scharfen, den 'Seelenverderber' Stalin entlarvenden Gedichts. Sein Tod unter entwürdigenden Umständen 1938 in einem Zwangsarbeiterlager bei Wladiwostok beförderte entscheidend seinen Ruhm. Mandelstam als Gulag-Häftling, als Opfer totalitärer Macht im 20. Jahrhundert: Dies ist oft das gängige Bild dieses Schriftstellers. Der stolze und selbstbewußte, scharfzüngige und streitlustige,…mehr

Produktbeschreibung
Ossip Mandelstam ist ein Mythos. Er gilt in Rußland und weltweit als Märtyrer der Poesie, der für seine Dichtung mit dem Leben bezahlte. Vor allem bekannt ist er als politisch Verfolgter und als Autor eines scharfen, den 'Seelenverderber' Stalin entlarvenden Gedichts. Sein Tod unter entwürdigenden Umständen 1938 in einem Zwangsarbeiterlager bei Wladiwostok beförderte entscheidend seinen Ruhm. Mandelstam als Gulag-Häftling, als Opfer totalitärer Macht im 20. Jahrhundert: Dies ist oft das gängige Bild dieses Schriftstellers. Der stolze und selbstbewußte, scharfzüngige und streitlustige, sinnliche, lebensfrohe und witzige Mandelstam, der durchau kein Märtyrer sein wollte, wird aus dem Mythos meist ausgeblendet.
Das vorliegende Buch ist die international erste Werkbiographie Ossip Mandelstams. Sie vermeidet beide Gefahren: das Weiterweben an der Heiligenlegende und die modische Demontage der Person. Mandelstam braucht weder ein Heiliger zu sein noch ein Monster. Sein Leben lang konnte er nichts anderes sein als Dichter. Wer war dieser Dichter, der uns trotz aller Tragik seiner Lebensumstände laut Pier Paolo Pasolini 'einer der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts' geschenkt hat? War sein Leben ein Albtraum, wie Kafka ihn hätte träumen können? Warum war er für viele - nicht nur russische - Künstler ein 'moderner Orpheus' (Joseph Brodsky)?
Autorenporträt
Ralph Dutli, geb. in Schaffhausen/Schweiz, studierte Romanistik und Russisch in Zürich und Paris. Er lebte von 1982-94 in Paris. Er ist Essayist, Lyriker und Übersetzer sowie Herausgeber der zehnbändigen Ossip-Mandelstam-Gesamtausgabe. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2002 mit dem 'Stuttgarter Literaturpreis' und 2014 mit dem '"Düsseldorfer Literaturpreis'. Der Autor lebt in Heidelberg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003

Orpheus in der Schlinge
Ralph Dutlis Biographie über Ossip Mandelstam
Im Jahr 1932 beurteilt die neue sowjetische Literatur-Enzyklopädie Ossip Mandelstam wie folgt: Sein Schaffen sei „der künstlerische Ausdruck des Bewusstseins der Großbourgeoisie”, es zeige „völlige Indifferenz der Gegenwart gegenüber”, „äußersten Fatalismus und die Kälte innerer Gleichgültigkeit” sowie „extrem bourgeoisen Individualismus”. Schwer kann man sich ein vernichtenderes Strafgericht über einen Dichter vorstellen. Verfasst wurde es – wie Ilja Ehrenburg sich später erinnerte – von einem ehemaligen Mandelstam-Verehrer, der unter dem Druck der Verhältnisse auf die Seite der Staats- und Parteimacht übergelaufen war.
Wie immer man den Wortlaut dieses Verdikts sonst beurteilen mag, es sagt doch – eher unfreiwillig – auch Zutreffendes über Mandelstam aus. Nach „Kälte” und bourgeoisem Bewusstsein wird man bei ihm zwar vergeblich suchen, die inkriminierte „Indifferenz” aber und vor allem der „Individualismus” sind Grundzüge seiner poetischen Existenz. Wie hätte sie sich anders verwirklichen lassen als durch ein Ab- oder Hinwegsehen von den Zumutungen seiner Gegenwart? „Über uns ein barbarischer Himmel”, schreibt Mandelstam schon 1918, „und dennoch sind wir Hellenen”.
Nachlesen lässt sich all dies nun in Ralph Dutlis eindrucksvoller Mandelstam-Biographie, Abschluss und Krönung der von ihm im Ammann Verlag herausgegebenen zehnbändigen Werkausgabe des Dichters, der 1891 in Warschau geboren wurde und 1938 in einem Durchgangslager bei Wladiwostok an Entkräftung starb (Nadeschda Mandelstam, seine Frau, überlebte ihn um mehr als vier Jahrzehnte und trug seinen Ruhm in die Welt hinaus). Dank Dutlis Leistung als Übersetzer und Biograph hat das Deutsch lesende Publikum nun den denkbar besten Zugang zu Mandelstams epochalem Werk.
Am Ende seiner Biographie hat Dutli Stimmen von Dichtern über Mandelstam gesammelt; die bemerkenswerteste ist vielleicht die von Pier Paolo Pasolini: „Leichtfüßig, klug, geistreich”, schreibt er, „elegant, ja sogar exquisit, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, redlich, hellsichtig und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, jugendlich, ja fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, treu und erfinderisch, lächelnd und geduldsam, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts geschenkt.” Eine der glücklichsten Dichtungen, so wäre zu ergänzen, in einer der finstersten Zeiten.
Zeit des Gedichtfiebers
„Dennoch sind wir Hellenen”, schreibt Mandelstam, dem das Hellenentum nicht in die Wiege gelegt war, wohl aber die musische Begabung. In seiner autobiographischen Prosa, erschienen unter dem Titel „Das Rauschen der Zeit”, hat er die Voraussetzungen seiner Künstlerschaft offen gelegt. Der Vater, ein Lederhändler, entstammte dem orthodoxen Judentum des Schtetl, hatte sich dann, seinen philosophischen und freidenkerischen Neigungen folgend, nach Berlin aufgemacht, ehe er sich im damals russischen Warschau niederließ. Die Mutter, Klavierlehrerin von Beruf, kam aus dem litauischen Wilna und zählte mit ihrer Familie zu den „Litwaken”, Vertretern des städtischen und emanzipierten Haskala-Judentums, das es zur Integration in die russische Kultur drängte.
Ossip nannte das Paar den erstgeborenen Sohn und wählte damit, wie um den Willen zur Assimilation zu bezeugen, die russisch-volkstümliche Version des Namens Joseph. Bald übersiedelt die Familie nach Petersburg, wo Mandelstam an der reformorientierten Tenischew-Schule mit den sozialrevolutionären Tendenzen der Zeit in Kontakt kommt und sich zum Agitator entwickelt. Eine Paris-Reise im Jahre 1907, in einer „Zeit der Erwartungen und des Gedichtfiebers”, führt ihn an Bergsons Philosophie und die Dichtung Verlaines heran. 1909/1910 folgt ein Studienaufenthalt in Heidelberg, wo er Vorlesungen bei Windelband und Lask hört.
Es entstehen Gedichte, die den jungen Mandelstam in religiöse Zweifel und Grübeleien versenkt zeigen: Schrecklich ist für mich unter Wasser der Stein des Glaubens, / Sein fatales unaufhörliches Kreisen, heißt es in einem Gedicht von 1910. Der Weg zum Hellenentum ist mit jeder religiösen Konfession letztlich unvereinbar. 1911 lässt sich Mandelstam, um in Petersburg studieren zu können, in Viborg nach finnisch-methodistischem Ritus taufen. Bald darauf erscheint sein erster Gedichtband „Der Stein”.
Fortan bildet er, gemeinsam mit Anna Achmatova und Nikolaj Gumiljow, die erste Reihe der „akmeistischen” Poesie, einer Konter-Avantgarde, die sich in zweifacher Abgrenzung von Symbolisten wie Futuristen auf den „Eigenwert jeder Erscheinung” beruft, sei sie alt oder neu, klassisch oder modern, vulgär oder erhaben. „Liebt die Existenz des Dinges mehr als das Ding an sich, und euer eigenes Dasein mehr als euch selbst – das ist das höchste Gebot des Akmeismus”, heißt es in einem der zahlreichen Manifeste jener Jahre. Ein Vorbild oder Rollenmodell erblickt Mandelstam, wie andere Dichter seiner Zeit, in Orpheus, dem Ur-Sänger – als modernen Orpheus hat Joseph Brodsky den von ihm verehrten Mandelstam denn auch bezeichnet.
Als Hellene am Schwarzen Meer
Dem rauschhaften, bildungstrunkenen Hellenentum, das Mandelstam um diese Zeit zu seiner Lebens- und Kunstmaxime erhebt, stehen bald schon die äußeren Verhältnisse krass entgegen. Will man sein kurzes Leben in zwei Hälften teilen, so gibt es eine (kürzere) Zeit ohne Hunger, Krankheit und politische Repression und eine längere, in der Mandelstams Existenz (und die seiner Frau Nadeschda, mit der er seit 1919 zusammenlebt) unablässig auf dem Spiel stehen. Es konnte wohl nur einer, der wie Mandelstam akmeistisch sein Dasein mehr liebt als sich selbst, ein Leben ertragen, das, von außen besehen, aus wenig mehr als Hunger und Krankheit, Verfolgung und Verbannung, Bedrohung und Diffamierung bestanden hat – und das doch „eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts” hervorgebracht hat.
Auch unter dem dunklen Himmel der „Sowjetnacht” bleibt Mandelstam Hellene, den seine Reisen immer wieder auf die Krim führen, ans Schwarze Meer, die Küsten Ovids, wo das russische Imperium an den Mittelmeerraum grenzt. Mal wird der Hellene als Menschewik und Spion der „Weißen” verdächtigt, mal werden ihm trotzkistische Neigungen unterstellt. Suspekt ist Mandelstam der Sowjetmacht in jedem Falle, und nur die Wertschätzung, die er als Lyriker bei einigen ihrer Führer, etwa bei Bucharin genießt, bewahrt ihn vor dem Äußersten. „Die Dichter haben immer recht”, schreibt Bucharin noch 1934 in einem Brief an Stalin, aber langsam zieht sich auch um ihn und andere Verteidiger Mandelstams die Schlinge zusammen.
Mandelstams Schicksal ist spätestens seit dem 6. Mai 1934, jenem denkwürdigen Ereignis im Leningrader „Haus der Presse” besiegelt, mit dem Nadeschda Mandelstam ihr Erinnerungsbuch „Das Jahrhundert der Wölfe” beginnen lässt: Mandelstam ohrfeigt öffentlich den offiziösen Schriftsteller Alexej Tolstoj, weil dieser ihn in der zwei Jahre zurückliegenden Sargidschan-Affäre zu Unrecht mitverurteilt hatte. Gorkij soll die Ohrfeige mit den Worten quittiert haben: „Wir werden ihn lehren, was passiert, wenn man russische Schriftsteller schlägt.” Wenig später wird er verhaftet und in die Lubljanka verbracht, dann zu drei Jahren Verbannung im Ural verurteilt. Er begeht einen Selbstmordversuch; bald darauf wird sein Verbannungsort geändert. 1937, nach der Rückkehr nach Moskau, wird er erneut verhaftet, 1938 wegen konterrevolutionärer Tätigkeit zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt.
Mandelstam ist im Archipel Gulag angekommen; am 27. Dezember 1938 stirbt er im sibirischen Osten, nach einer trotz großer Kälte angeordneten Desinfizierungsmaßnahme. 1935 hatte ihn die Schriftstellervereinigung von Woronesch in provokativer Absicht gefragt, was eigentlich Akmeismus sei. Mandelstams Antwort: „Sehnsucht nach Weltkultur”.
CHRISTOPH BARTMANN
RALPH DUTLI: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Ammann Verlag, Zürich 2003. 640 Seiten, 28, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003

Der unbekannte Kontinent
Nach der zehnbändigen Gesamtausgabe legt Ralph Dutli jetzt eine Biographie Ossip Mandelstams vor / Von Sonja Margolina

Der Tod eines Künstlers ... wirkt gleichsam als Quelle dieses Schaffens, als dessen teleologischer Grund", schrieb Ossip Mandelstam 1916 nach dem Tod Skrjabins und formulierte damit den Mechanismus der Kanonisierung des Künstlers im kollektiven Gedächtnis der Nation. Ein Leben nach dem physischen Ableben gibt es nur, wenn man Klassiker wird. Die Zeilen Mandelstams wurden stets als Vorahnung des eigenen Schicksals oder als self-fulfilling prophecy gelesen. Tatsächlich war sein tragischer Lebensweg wie geschaffen für eine postume Mythologisierung. Die Figur des gejagten, aber unbeugsamen Dichters, der dem Tyrannen die mörderische Wahrheit um den Preis des eigenen Lebens ins Gesicht schleudert, setzte einen hohen moralischen Maßstab und diente Andersdenkenden als moralische Stütze. Im Kontext des Kalten Kriegs konnte der 1938 in einem Straflager elend zugrunde gegangene Mandelstam freilich nicht die Rolle spielen, die der Boris Pasternaks vergleichbar gewesen wäre, dessen "Doktor Schiwago" zum internationalen Politikum wurde. Trotzdem war Mandelstam im Westen ein glückliches Nachleben beschert. Sein erster Übersetzer war kein Geringerer als Paul Celan. Der dem Holocaust entkommene, aber am "Jahrhundert-Raubtier" zerbrochene Celan entdeckte in dem Schicksal des Märtyrers des Stalinismus nicht nur dessen unheimliche Wahlverwandtschaft mit dem von Millionen Vergaster - in der totalitären Umzingelung, aus der nirgends ein Entkommen war -, sondern auch seine eigene stilistische und ästhetische Nähe zu Mandelstams Dichtung.

Die Übersetzung war für ihn deshalb ein Akt der Erkenntnis, wenn nicht der Verschmelzung mit einem aus dem Nebel der mörderischen Zeit emporgestiegenen Alter ego: "Der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm / was er schon weiß." Doch Mandelstam hatte auch mit seinen anderen Übersetzern Glück, vor allem mit Rainer Kirsch und Hubert Witt. Mitte der achtziger Jahre startete der Züricher Ammann Verlag zusammen mit dem Übersetzer und Herausgeber Ralph Dutli ein ehrgeiziges Projekt: die kommentierte Gesamtausgabe der Werke Ossip Mandelstams in zehn Bänden, die seit längerem vorliegt, aber erst jetzt mit Dutlis Biographie Mandelstams ihren Abschluß erhält. Das Engagement des Verlags und die Treue Dutlis, für den das Unterfangen zum Lebenswerk wurde, können nicht hoch genug bewertet werden. Dank dieser kulturellen Leistung wird der Dichter wie kaum ein anderer russischer "Moderner" in den deutschsprachigen kulturellen Raum integriert.

Seine ersten Schritte machte Mandelstam in der kleinen Gruppe junger Petersburger Dichter, die sich "Dichterzunft" oder Akmeisten nannten (aus dem Griechischen ,akme': Spitze). Die bekanntesten von ihnen waren seine Freunde Anna Achmatowa und ihr Ehemann Nikolai Gumiljow. Sie wollten sich von der älteren Dichtergeneration, den Symbolisten, abgrenzen und kritisierten diese wegen ihrer Absage an die diesseitige Realität und ihres Spielens mit nebulösen Symbolen und Andeutungen. Wenig hielten sie auch von den skandalumwitterten Futuristen mit ihren ikonoklastischen épatez-le-bourgeois-Provokationen. Die Ökonomie der Ausdrucksmittel, Gedankenklarheit und Aufmerksamkeit für das reale Leben in seiner ganzen Fülle sollten neues ästhetisches Programm werden. Im Jahr 1913 gibt Mandelstam seinen ersten schmalen Gedichtband "Der Stein" auf eigene Kosten heraus. Zumindest in den frühen Gedichten drückt er sich weder klar noch einfach, sondern ziemlich symbolistisch aus. Aber der Wandel ist nicht zu übersehen. Im Unterschied zu den Symbolisten mit ihrer konservativen Kulturkritik und Beschwörung des Untergangs begegnet Mandelstam dem Kapitalismus, der Stadt, der neuen Massenkultur mit Neugier und Bejahung. Themen seiner Dichtung sind Sport, Kino, Tourismus, Autos: Symptome für das Erwachen Rußlands aus seinem "schweren Schlaf", für die Öffnung des Landes für etwas, das man heute als "Globalisierung" bezeichnen soll. Es geht also um eine andere Perspektive. Doch im "Stein" tritt eine weitere Eigenart Mandelstams in Erscheinung: Das Neue verbannt das Alte nicht, das Kulturerbe wird nicht wie bei den Futuristen polemisch "vom Schiff der Gegenwart" entsorgt, sondern in die gesamte "jüdisch-christliche" Überlieferung integriert. Die akmeistische "Zeit, Steine zu sammeln", richtet sich gegen die neuen Barbaren.

Im übrigen war Mandelstam auch kein Erneuerer der Form wie etwa Majakowski: Seine Versmaße und Reime bleiben traditionell. Es ist deshalb kein Zufall, daß er vor dem avantgardistischen Hintergrund der 1910er Jahre häufig als "Neoklassizist" abgetan wurde. In seinem zweiten Gedichtband "Tristia" (1916 - 1925) entfaltet sich der "Neoklassizismus" zu voller Blüte. Die Bezüge auf antike Archetypen und mythische Gestalten häufen sich gerade in der Zeit der Revolution und des Bürgerkriegs, als vielen seiner Landsleute sicher eher der apokalyptische Reiter einfiel. Die realen Ängste und Sehnsüchte werden entpersonifiziert und im zeitlosen Kontext antiker Erhabenheit therapeutisch sublimiert. In "Tristia" tritt die eigenartige Qualität der Mandelstamschen Dichtung deutlich zutage. Er schafft geniale Metaphern, die eine bislang ungeahnte Verdichtung der Sinngebung ermöglichen. Man könnte mit der heutigen Computer-Sprache von einer Komprimierung der Erfahrungen und des Wissens sprechen. Mandelstam gilt also nicht zu Unrecht als "dunkler" Dichter, und etliche Literaturwissenschaftler verdienen ihr Brot bis heute damit, seine Metaphern zu enträtseln. Natürlich wäre er kein großer Poet, wenn es nur bei der Verdichtung bliebe. Letztendlich kommt es beim Gedicht auf die Wirkung an. Die Metapher muß "stimmen", um den Leser in Bann zu schlagen, er muß seine eigenen Empfindungen, dunklen Ahnungen, Weltbilder darin wiedererkennen können: "Dein Glück - nur der Moment, da du's erkennst".

Dieser Begegnung zwischen Dichter und Leser, die ja auch das Wesen der Poesie ausmacht, sind bei der Übersetzung in eine Fremdsprache enge Grenzen gesetzt. Denn die Metapher, insbesondere eine derart komprimierte Metapher, läuft Gefahr, durch die Fremdsprache erodiert zu werden. Die Unmöglichkeit der Übertragung ist der Lyrik immanent. Deshalb sind Essayistik und Prosa Mandelstams für fremdsprachige Leser als Kommentar zu seinem poetischen Werk von besonderer Bedeutung. Die komprimierten Metaphern werden dort entkomprimiert, in den Kontext zeitgenössischer literarischer Diskurse oder des unmittelbaren Geschehens gestellt.

Die zweibändige Ausgabe der "Gesammelten Essays" (1913 - 1935), von Dutli kongenial übersetzt, gibt Auskunft über das Weltbild und die "unerschütterlichen" Werte Mandelstams. Obwohl manche seiner besten Essays zur Zeit ihres Entstehens einen hohen diskursiven Wert besaßen, wurden sie damals kaum rezipiert. Der autobiographische Prosatext "Das Rauschen der Zeit" (1925) und die Gogoleskaer Phantasmagorie "Die ägyptische Briefmarke" (1928) blieben ebenso am Rande der zeitgenössischen Wahrnehmung.

Im Jahr 1930 reist Mandelstam nach Armenien, wo er, der fünf Jahre lang geschwiegen hat, zur Dichtung zurückfindet. In den armenischen und Moskauer Gedichten (1930 - 1933) verabschiedet er sich von der "Klassik". Seine Verse werden metrisch variationsreicher, die Stimme wird rauher. Anstelle des "Goldenen Zeitalters" tut sich ein alttestamentarischer Abgrund auf, in dem über die Letzten Dinge nachgedacht und gedichtet wird. Mandelstam wird zum Chronisten einer Zeit, die Millionen von Hiobs und Daniels in Massengräbern verscharrt. Von den in der Verbannung nach 1934 geschriebenen Gedichten, die in den "Woronescher Heften" gesammelt wurden, gelangte damals nur eine Handvoll an die Leser. Sie bringen die Sehnsucht des zum Aussätzigen gemachten Poeten, aber auch sein erfolgloses Bemühen zum Ausdruck, um seines Überlebens willen Stalin zu besingen: das letzte Flehen des Verdammten vor dem Absturz in Wahn und Tod.

Mandelstams elender Tod im GULag wäre nie zur "Quelle seines Schaffens" geworden, wenn seine Witwe Nadeschda sich nicht um sein Erbe gekümmert hätte. Abgesehen von dem Umstand, daß sie die ungedruckten Gedichte ihres Mannes auswendig lernte und dadurch dem Vergessen entriß, schrieb sie seit den fünfziger Jahren an ihren Memoiren, die in den Westen geschmuggelt wurden und in einem Emigrantenverlag erschienen. Die erste deutsche Ausgabe unter dem Titel "Jahrhundert der Wölfe" erschien 1970, 1975 folgte das zweite Erinnerungsbuch "Generation ohne Tränen". Zum ersten Mal trat die Persönlichkeit des Dichters hinter dem Vorhang des Vergessens hervor und bekam Leben und Farbe. Nadeschda, die nie mehr als Weggefährtin des Dichters sein wollte, erwies sich als begnadete Publizistin: intelligent, scharfzüngig, hochmütig, gnadenlos. Vielen damals noch lebenden, aber heute längst verstorbenen Protagonisten soll sie mit ihrer Voreingenommenheit, ja Bösartigkeit, Schaden zugefügt haben. Ihr ging es nicht um die Wahrheit. Sie hatte ihre eigene, leidgeprüfte Sicht auf Mandelstams Leben aus der Perspektive seines gewaltsamen und ungerechten Todes. Diese Verklärung war auch mehr als verdient: Es gab einfach keinen anderen Schriftsteller, der 1934 ein Gedicht vergleichbar mit dem "Epigramm gegen Stalin" hätte schreiben, geschweige denn vortragen können. Es ist das Gedicht, in dem Stalin Massenmörder genannt wurde. Dieser verzweifelte Akt der geistigen Hygiene kostete den Dichter schließlich das Leben. Doch die Erinnerungen selbst eines sehr nahe stehenden Menschen sind noch keine Biographie, obwohl es immer so etwas wie ein Monopol der Witwe auf die Version von Mandelstams Lebens gegeben zu haben scheint.

In den neunziger Jahren, als allmählich Zeugnisse aus dem Umkreis der Mandelstams veröffentlicht wurden, die ein etwas komplizierteres Bild des Dichters und seiner Frau zeigten, unterstellte man den "Tabubrechern" niedere Motive. Den Felsen namens Nadeschda, von Joseph Brodsky pietätvoll "Witwe der Kultur" genannt, zu überwinden ist nicht einfach. Vor diesem Hintergrund mußte man auf die Biografie Mandelstams von Ralph Dutli sehr gespannt sein, sollte sie doch als erste Biographie des Poeten das großartige Mandelstam-Projekt des Ammann Verlags krönen.

Die Abkehr des Verlags von der einheitlichen und schlichten Gestaltung der Werkausgabe mag Geschmacksache sein. Merkwürdig mutet indes die Erklärung Dutlis im ersten Kapitel an, er wolle keine "voyeuristische Chronik" anbieten, mit der er offensichtlich eine Biographie gleichsetzt. Er scheint dieses Genre geradezu zu verachten und entscheidet sich "nach aller berechtigten Beschimpfung der Biographie" lediglich für eine "Werkbiographie samt Selbstzeugnissen". Traut Dutli, zweifellos einer der größten Kenner Mandelstams, sich womöglich nicht zu, die Lebensgeschichte des Dichters zu schreiben? Möchte er sich von Anfang an prophylaktisch gegen Kritik absichern?

Das wäre durchaus verständlich: Vom Alltagsleben des Dichters ist erstaunlich wenig bekannt, die Zeugnisse der Zeitgenossen sind oft widersprüchlich oder voreingenommen. Noch schwieriger ist es vielleicht, die dramatische, ereignisreiche Epoche in das lückenhaft überlieferte Leben Mandelstams einzuweben. Daß vor Dutli niemand dieses Wagnis unternommen hat, ist kein Zufall.

Die Entscheidung zugunsten der "Werkbiographie" hat nicht unerhebliche Folgen. Dutli folgt dem Leben Mandelstams chronologisch und beleuchtet es mit umfangreichen Zitaten und Nacherzählungen, die er als Dokumente behandelt. Mandelstams Ideen und Wertvorstellungen wird dadurch ausreichend Rechnung getragen, seiner schillernden Persönlichkeit jedoch nicht. Ähnlich wie in den Memoiren seiner Witwe erscheint der Dichter als Dissident, der sich bewußt gegen den Totalitarismus auflehnt und im ungleichen Kampf unterliegt. Man erfährt wenig über die Umgebung Mandelstams, noch weniger über seine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Frau. Sie tritt überwiegend als treuer Schatten und Dienerin des Genies auf. Eine merkwürdige Scheu legt der Verfasser an den Tag, wenn er auf die erotischen Beziehungen zu sprechen kommt, die keinen geringen Platz im Leben beider und ihres Milieus einnahmen. So schreibt er über die Beziehung zwischen Zwetajewa und Mandelstam: "Wie weit die erotische Annäherung zwischen den beiden ging - über den ,Übermut' und Küsse hinaus? -, braucht keinen zu interessieren." Einspruch, Euer Ehren, sie darf den Leser sehr wohl interessieren, zumal Nadeschda Mandelstam selbst sich absolut klar dazu geäußert hat: Marina hat Ossip in den Liebeskünsten unterwiesen, und Nadeschda war ihr dafür dankbar.

Dutli gibt zahlreiche Hinweise darauf, daß der Dichter sein Ende schon vor der Revolution vorausgeahnt haben soll. Die sogenannten poetischen Prophezeiungen werden hier zu buchstäblich verstanden. In Wirklichkeit stirbt der Dichter in jedem zweiten Gedicht, und sein Tod hat mehr mit seinem poetischen Selbstverständnis und der Logik der lyrischen Überhöhung als mit den konkreten Ereignissen zu tun. Das ändert sich freilich in den dreißiger Jahren, als Mandelstam seine Ausgrenzung immer mehr zu spüren bekommt. Die dreißiger Jahre zu durchleuchten gelingt Dutli besser, auch weil dieser Lebensabschnitt des Dichters eingehender erforscht ist. Insgesamt bleibt er aber fast vollständig dem Mandelstam-Verständnis der siebziger Jahre verhaftet mit seinen rigorosen Vorstellungen des Totalitarismus und dem Mythos des unbeugsamen Dichters. Dutli stellt Mandelstams Wertvorstellungen und sein Verständnis der Zeit durchaus gründlich dar. Doch der Dichter geht vollständig in seinen Werken auf. Die Lebensgeschichte Mandelstams harrt noch immer ihres Erzählers.

Ralph Dutli: "Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier". Ammann Verlag, Zürich 2003. 630 S., geb., 28,90 [Euro].

"Ossip Mandelstam". Das Gesamtwerk in Kassette. Ammann Verlag, zweite Auflage Zürich 2003. 199,- [Euro] in der Kasssette. Auch in Einzelbänden lieferbar.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"..., warum ich Mandelstam liebe: die unwandelbare Magie jeder Zeile. Es geht nicht um ´Klassizismus´, sondern um Zauber." (Marina Zwetajewa)
"Ein herrlicher Dichter, der größte von allen, die in Russland unter der Sowjetherrschaft zu überleben versuchten!" (Vladimir Nabokov)

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Christoph Bartmann ist begeistert von Ralph Dutlis "eindrucksvoller Mandelstam-Biografie", die er als "Krönung" der von Dutli herausgegebenen Werkausgabe des Dichters feiert. Dank Dutlis Leistung "als Übersetzer und Biograf", lobt Bartmann, habe das deutsche Publikum nun "den denkbar besten Zugang" zu Mandelstams epochalem Werk. Das Buch, so erfährt man vom Rezensenten, bietet außerdem nicht allein die Geschichte von Leben und Werk des 1891 in Warschau geborenen und 1938 im Archipel Gulag an Entkräftung gestorbenen Dichters, der unter anderem Mitbegründer der "akmeistischen" Bewegung war, einer Art "Konter-Avantgarde", wie der Rezensent sie nennt, und von der Mandelstam selbst, wie man erfährt, einmal sagte, sie sei vor allem "Sehnsucht nach Weltkultur". Ralph Dutli hat darüber hinaus, berichtet Bartmann, am Ende seiner Biografie auch "Stimmen von Dichtern über Mandelstam" gesammelt, unter denen die "vielleicht bemerkenswerteste" für den Rezensent diejenige Pier Paolo Pasolinis war: "Leichtfüßig, klug, geistreich, elegant, ja sogar exquisit, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, redlich, hellsichtig und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, jugendlich, ja fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, treu und erfinderisch, lächelnd und geduldsam, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts geschenkt."

© Perlentaucher Medien GmbH
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