Produktdetails
  • Verlag: Europa Verlag
  • Seitenzahl: 576
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 868g
  • ISBN-13: 9783203790053
  • ISBN-10: 320379005X
  • Artikelnr.: 23919688
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2001

Kosten sparen, auch wenn es Leben kostet
Ärzte im Dienst der nationalsozialistischen Rassenpolitik: Experimente an Patienten und Häftlingen

Michael H. Kater: Ärzte als Hitlers Helfer. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Renate Weitbrecht. Europa Verlag Hamburg 2000. 576 Seiten, 58,50 Mark.

Hans-Henning Scharsach: Die Ärzte der Nazis. Orac Verlag, Wien 2000. 256 Seiten, 39,90 Mark.

Ernst Günther Schenck: Dr. Morell. Hitlers Leibarzt und sein Pharmaimperium. Verlag S. Bublies, Koblenz 2000. 559 Seiten, 68,- Mark.

Die Stärke von Regierungen und Systemen kann am besten daran abgelesen werden, wie ein Staat mit seinen Schwachen und Kranken umgeht. Gerade deshalb ist es notwendig, sich mit der Medizin im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Drei Neuerscheinungen beschäftigen sich mit diesem Thema.

Das Buch von Kater ist eine Übersetzung der englischen Originalausgabe aus dem Jahre 1989. Das Buch ist gut recherchiert und besticht durch ausführliche Zitate. Kater stellt nicht nur die Verbrechen von Individuen dar, sondern geht in einer sehr sorgfältigen Analyse auf die sozioökonomischen Bedingungen ein, schildert die Probleme der Ärztinnen und beschreibt die Krise der medizinischen Fakultäten. Der Verfolgung der jüdischen Ärzte und den Vorteilen, die viele ihrer deutschen Kollegen daraus zogen, ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Die verspätete Übersetzung ohne Neubearbeitung bedingt, daß aktuelle Forschungsergebnisse nicht eingearbeitet worden sind. Statt dessen hat Kater ein Vorwort geschrieben, das relativ pauschalisierend eine noch heute existierende Kontinuität zwischen Medizin(historik)ern in der NS-Zeit und der Jetztzeit herstellt.

Die Tatsache, daß es viele Kontinuitäten gab, bestreitet niemand mehr, ebenso nicht, daß sich diese Kontinuitäten bis weit nach der Gründungsphase der Bonner Republik erstreckten. Gerade die personellen Kontinuitäten sind jedoch in der letzten Dekade aufgedeckt und intensiv diskutiert worden. Auch unter den etablierten ärztlichen Standesorganisationen hat inzwischen eine kritische Reflexion eingesetzt. Es ist schade, daß Kater durch sein oberflächliches Vorwort das hervorragende Werk selbst herabsetzt.

In dem Werk von Scharsach werden nahezu alle Aspekte der Medizin der NS-Zeit behandelt. Durch das erste Kapitel "Die Zeit vor 1933. Ärzte als Vorreiter der Rassenpolitik" wird der Leser auf die wichtigsten historischen Wurzeln hingewiesen. In den folgenden Kapiteln werden die Rassenpolitik, die Politik zur "pflichtgemäßen Erhaltung der Gesundheit", Euthanasie und Medizin in den Konzentrationslagern einschließlich der unmenschlichen Versuche geschildert. Die meisten Fakten sind aus anderen Veröffentlichungen bekannt.

Der vermutlich letzte Fall einer juristischen Aufarbeitung von Verbrechen von Ärzten in der NS-Zeit wird ausführlich geschildert. Der Österreicher Dr. med. Heinrich Gross veröffentlichte noch Jahre nach dem Krieg Arbeiten über Gehirne von Kindern, die in der Wiener Kinderfachabteilung Spiegelgrund getötet worden waren und an deren Tötung er zumindest indirekt beteiligt gewesen war. In der Nachkriegszeit war er Gerichtsgutachter bei über 30 000 Fällen und ist noch weiterhin als solcher tätig, obwohl 1999 ein Verfahren gegen ihn eingeleitet worden ist. Die Einleitung eines Prozesses gegen Gross in Wien kann vielleicht als ein Indiz dafür gelten, daß sich das gesellschaftliche Klima wandelt und das Vertuschen solcher Fälle nicht mehr akzeptiert wird.

Proteinwurst aus Abfällen

Kater und Scharsach schildern die Medizin des Nationalsozialismus als ein auf Effizienz und Kostenverminderung ausgerichtetes System, in dem die als unheilbar angesehenen Kranken besonders unter dem Kostenaspekt als zu vernichtendes Leben angesehen wurden. Da in der heutigen Diskussion um unser Gesundheitssystem Schlagworte wie Kosteneinsparungen und Effizienz eine starke Rolle spielen und die Rationierung von Gesundheitsleistungen kein prinzipielles Tabu mehr darstellt, ermöglichen beide Bücher einen guten Einstieg in die historische Dimension solcher Diskussionen.

Das merkwürdigste Buch über Medizin im Nationalsozialismus ist das von Schenck über Hitlers Leibarzt Dr. Theo Morell und sein Pharmaimperium. Zur Person des Autors Schenck wird im Buch von Kater ausführlich Stellung genommen. Der im Jahre 1904 geborene Schenck erlangte 1927 den naturwissenschaftlichen Doktortitel, im Jahre 1929 den medizinischen Doktortitel und trat 1933 in die SA ein. Sein Eintritt in die NSDAP und in den NS-Ärztebund datieren aus dem Jahre 1937. 1942 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt.

Während seiner Karriere in der NS-Zeit wechselte er in das Büro des Reichsgesundheitsführes Dr. Leonardo Conti und brachte es im Herbst 1944 bis zum Obersturmbannführer der SS und zum Ernährungsinspekteur der Waffen-SS. Im Rahmen dieser Tätigkeit entwickelte er eine Proteinwurst, die aus Abfällen hergestellt wurde. Diese Wurst wurde an 100 Häftlingen ausprobiert. Weitere Ernährungsexperimente führte Schenck an 370 Inhaftierten des Konzentrationslagers Mauthausen durch, wobei eine Reihe von Häftlingen sich unwohl fühlte und an Auszehrung starb.

Kater schildert Schenck als jemanden, der möglichst schnell vorankommen wollte. Er stellt Schenck in eine Reihe mit Josef Mengele, dem Chefarzt in Auschwitz, und Sigmund Rascher, der unmenschliche Unterkühlungs- und Unterdruckversuche in den KZs durchführte, bei denen viele Versuchspersonen ums Leben kamen.

Schenck dürfte zumindest mit der unmittelbaren Umgebung von Morell, wenn nicht sogar selbst mit ihm in Kontakt getreten sein. In seinem Buch kommt das aber nicht zum Ausdruck. Es werden im wesentlichen die in Washington aufbewahrten Morell-Papiere ausgewertet. Zur Rolle von Morell bei der Behandlung von Hitler nimmt Schenck kaum Stellung. Er schildert Morell als einen Arzt, der nicht zu den Etablierten des damaligen Medizinbetriebes gehörte. Um sich gesellschaftlich aufzuwerten, versuchte Morell sich als Wissenschaftler zu profilieren durch eine Reihe von Präparaten, die von seinen Firmen hergestellt wurden, und davon auch finanziell zu profitieren. Ein Großteil dieser Präparate erwies sich jedoch als unwirksam.

Für die Intelligenz von Morell spricht, daß er die Bedeutung der Therapie mit Penizillin richtig einschätzte und mit seinen Mitarbeitern versuchte, die Penizillin-Produktion im größeren Maßstab in Deutschland zu etablieren, was bekanntermaßen nicht gelang. Daneben schildert Schenck auch skurrilere Forschungsvorhaben Morells, wie etwa den Aufbau eines elektronenmikroskopischen Forschungslabors in Bayrisch-Gmain, der noch Anfang 1945 mit Nachdruck betrieben wurde.

Morell spielte keine wesentliche Rolle während der NS-Zeit. Schenck klebt an vielen Kleinigkeiten aus Morells Leben, die heute keinen mehr interessieren. Das Buch bietet kaum grundsätzliche Einsichten in das System der NS-Medizin. Außerdem ist es aufgrund der Lebensgeschichte seines Verfassers wenig empfehlenswert.

UDO SCHUMACHER

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Christoph Jahr bespricht zwei Bände zum Thema "Ärzte im Nationalsozialismus", die aus völlig unterschiedlicher Perspektive den Ärztestand jener Zeit ins Visier nehmen.
1) Michael H. Kater: "Ärzte als Hitlers Helfer"
Zu reißerisch findet Jahr den deutschen Titel dieses Standardwerks, das bereits 1989 im kanadischen Toronto als "Doctors under Hitler" veröffentlicht wurde. Das Buch zeichnet sich gerade durch profunde und differenzierte Recherche aus, so Jahr, die sich keineswegs nur auf den bekannten KZ-Arzt Mengele erstreckt, sondern die ganze Ärzteschaft unter die Lupe nimmt. Und dabei hat Kater Erstaunliches zutage gefördert, berichtet Jahr: gerade die Ärzteschaft war einer der am meisten naziorientierten Berufsstände. In Zahlen ausgedrückt: die Ärzte waren etwa im Verhältnis 3:1 in der NSDAP überrepräsentiert, in der SS sogar 7:1. Jahr erklärt diese Tatsache damit, dass der Elite- und Euthanasiegedanke eine große Faszination auf die Ärzte ausgeübt haben muss; "moralische Blindheit" war wohl die häufigste Krankheit der NS-Zeit, konstatiert der Rezensent.
2) Eduard Seidler: "Verfolgte Kinderärzte 1933-1945"
Der Antisemitismus war auch eine nützliche Angelegenheit für solche Ärzte, die sich so allzu großer Konkurrenz entledigt konnten, meint Jahr und berichtet weiter, dass 40 Prozent der medizinischen Hochschullehrer ihre Stelle aufgeben mussten. Neben den Hochschullehrern waren es die einfachen Ärzte, von denen etwa 15 Prozent als jüdisch klassifiziert wurden, und die Kinderärzte, von denen sogar 50 Prozent als jüdisch galten, die gezwungen waren, ihre Arbeit aufzugeben. Was mit ihnen passierte, listet ein von der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Auftrag gegebenes Buch auf, das, wie der Rezensent schreibt, naturgemäß unvollständig ausfallen muss. Etwa 600 Einzelschicksale konnten recherchiert werden, berichtet Jahr, einem Teil der jüdischen Ärzteschaft gelang die Flucht, viele andere starben durch Deportation.

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"Kater zeichnet ein ausgesprochen differenziertes, auch sozialhistorisch fundiertes Bild der deutschen Ärzte im Nationalsozialismus, wobei er sich keinesfalls auf bekannte Figuren wie den berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele konzentriert." (NZZ)