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Produktdetails
  • Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Vorlesungen Abteilung II. Band 8
  • Verlag: De Gruyter
  • 1998.
  • Seitenzahl: 968
  • Deutsch
  • Abmessung: 244mm x 174mm x 59mm
  • Gewicht: 1688g
  • ISBN-13: 9783110156447
  • ISBN-10: 311015644X
  • Artikelnr.: 07283672
Autorenporträt
Walter Jaeschke, Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des dortigen Hegel-Archivs, Bochum.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2000

Vorbeugendes aus der Realschulbuchhandlung
Zur Erziehung gegen Staatskrisen: Schleiermachers Vorschläge zur Ausbildung von Gemeinsinn

"Bei dieser Gelegenheit mache ich Ew. Excellenz auf die Vorlesungen des Professors Schleiermacher aufmerksam. Sie hatten hauptsächlich eine politische Tendenz, dienten, ohne einen reellen Nutzen zu gewähren, dazu, die Gemüter zu . . . entzweien. Se. Majestät der König haben sich mehrmals mißfällig darüber geäußert, und sie dürfen unter diesen Umständen nicht ferner gestattet werden." Diesen Brief des Staatskanzlers Fürst von Hardenberg an den Unterrichtsminister Altenstein hat Max Lenz in seiner Geschichte der Berliner Universität 1910 überliefert. Hardenberg bezog sich auf "Die Lehre vom Staat", die Schleiermacher im Wintersemester 1817/1818 las. Nachschriften und fragmentarisch erhaltene Manuskripte der Politik-Vorlesungen hat Walter Jaeschke nun mustergültig ediert. Trotz des hohen Preises fehlt ein Begriffsregister.

Schon als Student hatte sich Schleiermacher mit den Naturrechtsdebatten der Aufklärer beschäftigt. Noch vor der Gründung der Berliner Universität lud er 1808/1809 in der Tagespresse zu Privatvorlesungen über die Staatslehre ein. "Unterzeichner gedenkt in bevorstehendem Winter die Theorie des Staates, seiner wesentlichen Bestandteile, und Verrichtungen nach den in der Ethik mitgeteilten Principien genauer zu entwickeln, in zwei wöchentlichen Stunden. Das Nähere in der Realschulbuchhandlung." Nach der Berufung auf den Dogmatik-Lehrstuhl der Theologen durfte Schleiermacher als Mitglied der Akademie auch in der Philosophischen Fakultät lesen.

Angesichts der wachsenden Polarisierung zwischen restaurativen Kräften um den Hof und konstitutionell-frühliberalen Reformern wollte Schleiermacher kein zeitlos gültiges Staatsideal entwickeln, sondern eine konkrete Lehre von der "Staatsverfassung", "Staatsverwaltung" und "Staatserhaltung" entfalten. "Die Natur dieser Vorträge soll ganz physiologisch sein; die Natur des Staats im Leben betrachten und die verschiedenen Funktionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen und auf diesem Wege ein richtiges Handeln möglich machen."

Die Staatslehre baut auf Schleiermachers philosophischer Ethik auf. Diese Kulturethik gehört zu den faszinierendsten Sozialtheorien im Übergang vom altständischen Gemeinwesen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft. Der Theologe und Kulturphilosoph versteht Ethik als multiperspektivische Deutung menschlicher Praxis in allen ihren Dimensionen. Der Einfluss der Vernunft auf die Natur vollziehe sich als zunehmende Naturbeherrschung und Bildung einer sittlichen Welt. Schleiermacher unterscheidet zwei Grundrichtungen vernünftigen Handelns, das Organisieren, die bildende Tätigkeit, und das Symbolisieren, die bezeichnende Tätigkeit. Diese Differenz verbindet er mit dem Gegensatz von Gleichheit und Verschiedenheit, Identität und Individualität. So gewinnt er ein Viererschema, das alle Handlungen des Menschen ethisch zu qualifizieren erlaubt, Schleiermacher geht es um die relative Autonomie der vier Kultursphären.

Die politischen Institutionen haben ihren Ort in der Sphäre des identischen Organisierens. Schleiermacher lehnt es ab, "daß die Tätigkeit des Staates sich über die Totalität des Lebens erstrecke". Wer Musik macht, darf seinem eigenen Gusto folgen. Wer Politik betreibt, ist an das Staatsgesetz gebunden. Die funktionale Unterscheidung vier selbständiger Handlungsfelder dient individueller Freiheit. Der Reformer, dessen Vorlesungen von der Polizei überwacht werden, will konstitutive Grenzen des Politischen gegenüber freier Geselligkeit, Wissenschaft, Kunst und Religion markieren. Er setzt dazu auf eine konstitutionelle Monarchie mit starken Repräsentativorganen der Bürger. Kleinen politischen Einheiten wie den Kommunen und Distrikten gilt seine besondere Aufmerksamkeit. Hier sei direkte Demokratie möglich.

Im Staat sieht Schleiermacher eine "Verbindung zur Rechtspflege". So muss er die "Entstehung der bürgerlichen Gesinnung und Ehre" erörtern. Der Staat kann den "Gemeinsinn" der Bürger nicht erzeugen. Soziales Ethos kann nur durch Religion und Wissenschaft gefördert werden. Die Selbständigkeit der Religion und die Trennung von Staat und Kirchen schließen es nicht aus, religiös erschlossener Moralität sekundär auch politische Bedeutung zu geben. Der Staat ist auf Religion angewiesen, "weil die Religion in der Gesamtheit die Moralität, und damit die Pietät des Einzelnen gegen den Staat bestimmt".

Der theologische Kulturtheoretiker hofft auf eine "ethische Harmonie des Staates mit den großen ethischen Organisationen", den Kirchen und höheren Bildungsanstalten. "Wir müssen gestehn daß wir es als den vollkommenen Zustand ansehen müssen, wenn die religiöse Gemeinschaft und die wissenschaftliche Tendenz den Staat auf alle Weise unterstützt ohne ihre Selbständigkeit zu verlieren." Durch den neuen religiösen "Indifferentismus" sieht er die moralischen Grundlagen des "Gemeinwesens" bedroht. Wo es keine Frömmigkeit gibt, kann keine Moralität tradiert werden. Dennoch gehen religiöse Institutionen für Schleiermacher nie in der Funktion auf, bürgerliche Moral zu erzeugen.

Schleiermachers Zuordnung von Staat, Ökonomie, Religion und Bildungssystem lässt sich als ein liberaler Kommunitarismus beschreiben. Seiner Braut Henriette von Willich schreibt er 1808 über die parallel durchgeführten Privatvorlesungen zur Glaubenslehre und Politik: "Die Gegenstände sind so herrlich! Denn, jungen Männern jetzt das Christentum klar machen und den Staat, das heißt eigentlich ihnen alles geben, was sie brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Vergangenheit war." Hardenberg hatte Unrecht. Schleiermachers Vorlesungen zur Lehre vom Staate gewähren einen reellen Nutzen. Sie sind zur rechten Zeit erschienen. Wenn Korruption herrscht, muss man Klassiker lesen. "Bürgerliche Ehre und Gesinnung" werden auf den Seiten 642 ff. behandelt.

FRIEDRICH WILHELM GRAF.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: "Vorlesungen über die Lehre vom Staat". Hrsg. von Walter Jaeschke. Kritische Gesamtausgabe. Zweite Abteilung (Vorlesungen), Band 8. Verlag de Gruyter, New York 1999. LXIII, geb., 458,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Zum ersten mal, schreibt Gert Lange, liegt hier "Schleiermachers Staatslehre" vollständig vor, die in der bisherigen Rezeption des Berliner Theologen noch kaum eine Rolle gespielt hat. Und die "Überraschung" für den Leser ist tatsächlich groß, so Lange, denn "der als Romantiker und Gefühlstheologe bald ins Abseits verbannte Gelehrte erweist sich darin als realistischer Spätaufklärer." Es zeigt sich hier, warum Schleiermachers Vorlesungen, die er zwischen 1807 und 1833 an der Berliner Universität hielt, dem König durchaus missfallen konnten, und er sogar einmal die Entlassung des "wortgewaltigen Predigers" erwog. Konsequent "idealistisch" zeigt Schleiermacher sich zwar in seiner Auffassung des Gesetzes als "allgemeine Willen", und war dadurch den Revolutionären des Vormärz zu lau. Aber ebenso konsequent geht er aus vom grundsätzlichen "Gegensatz von Obrigkeit und Untertan", der den Staat konstituiert. Lange betont, dass die Regulationspflicht des Staates und die Verpflichtung des "Privateigentums zum allgemeinen Besten", wie Schleiermacher sie formuliert hat, immerhin Probleme benennt, die bis heute nicht "gegenstandslos" geworden sind.

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