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Wie können wir den Ursprung des Hasses erklären, der unsere Welt überzieht - von Amokläufern über den IS bis hin zu Donald Trump, von rachsüchtigem Nationalismus bis zu Rassismus und Frauenfeindlichkeit in den Sozialen Medien?
Der britisch-indische Intellektuelle Pankaj Mishra gibt in seinem neuen Buch eine überraschende Erklärung. Indem er zunächst den Blick bis hin zurück ins 18. Jahrhundert richtet, zeigt er, wie schon im Prozess der Modernisierung diejenigen, die nicht davon profitiert haben, anfällig für Demagogen waren. Und alle anderen, die zu spät kamen, zurückgelassen oder…mehr

Produktbeschreibung
Wie können wir den Ursprung des Hasses erklären, der unsere Welt überzieht - von Amokläufern über den IS bis hin zu Donald Trump, von rachsüchtigem Nationalismus bis zu Rassismus und Frauenfeindlichkeit in den Sozialen Medien?

Der britisch-indische Intellektuelle Pankaj Mishra gibt in seinem neuen Buch eine überraschende Erklärung. Indem er zunächst den Blick bis hin zurück ins 18. Jahrhundert richtet, zeigt er, wie schon im Prozess der Modernisierung diejenigen, die nicht davon profitiert haben, anfällig für Demagogen waren. Und alle anderen, die zu spät kamen, zurückgelassen oder ausgegrenzt wurden sind, immer auf erschreckend gleiche Weise reagiert haben: mit Hass auf erfundene Feinde, dem Heraufbeschwören eines imaginären Goldenen Zeitalters und der Selbstermächtigung durch spektakuläre Gewalt.
Heute wie damals treiben Massenpolitik, Technologie und das Streben nach Reichtum und Individualismus Millionen von Menschen ziellos in eine demoralisierte Welt: Entwurzelte, die von der Moderne nicht profitieren - mit denselben schrecklichen Folgen.
Eine brillante und höchst aktuelle Deutung der Gegenwart, wie sie nur ein wahrhaft »globaler Intellektueller« (SZ) vorlegen kann.

»Mit tiefem Verständnis sowohl der westlichen wie der nichtwestlichen Geschichte bekommt Pankaj Mishra, wie niemand vor ihm, das Elend im Herzen dieser gefährlichen Zeiten in den Griff.
Das ist das erstaunlichste, überzeugendste und verstörendste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.«
Joe Sacco

»Zwingend, tiefgründig und genau zur richtigen Zeit.«
John Banville
Autorenporträt
Pankaj Mishra, geboren 1969 in Nordindien, schreibt seit über zehn Jahren regelmäßig für die »New York Review of Books«, den »New Yorker« und den »Guardian« über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. Er gehört zu den großen Intellektuellen des modernen Asien und hat zahlreiche Essays in »Lettre International« und »Cicero« veröffentlicht; auf Deutsch sind darüber hinaus der Roman »Benares oder Eine Erziehung des Herzens« und der Essayband »Lockruf des Westens. Modernes Indien« erschienen. Pankaj Mishra war u. a. Gastprofessor am Wellesley College und am University College London. Für sein Buch »Aus den Ruinen des Empires«, das 2013 bei S. Fischer erschien, erhielt er 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei S. Fischer sind von ihm außerdem »Begegnungen mit China und seinen Nachbarn« und »Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart« erschienen. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem Dorf am Rande des Himalaya. Literaturpreise: 2014 Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 Windham Campbell Literature Prize der Yale University 2013 Crossword Book Award for Nonfiction Michael Bischoff, geboren 1949, studierte Mathematik und Soziologie und war Wissenschaftslektor im Suhrkamp Verlag. Seit 1977 übersetzt er Literatur aus dem Französischen und Englischen, u.a. von Émile Durkheim, Michel Foucault, Isaiah Berlin und Richard Sennett. Laura Su Bischoff, geboren 1984, studierte Amerikanistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2014 übersetzt sie Sachbücher und Literatur aus dem Englischen, u.a. von Arthur Conan Doyle, Bee Wilson, Daniel Immerwahr, David Abulafia und Pankaj Mishra.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2017

Die Wut auf die Moderne
Warum befriedet das liberale System nicht die Welt? Der indische Publizist Pankaj Mishra versucht mit Rousseau und Dostojewskij das Ressentiment zu verstehen, das heutige Nationalisten und Islamisten antreibt

In London fährt ein Lieferwagen nachts in eine Gruppe von Muslimen hinein, die gerade aus einer Moschee kommen. In Paris rast ein mit Munition und Gasflaschen beladenes Auto in einen Mannschaftswagen der Polizei. In Brüssel versucht ein Mann, im Zentralbahnhof einen mit Gasflaschen und Nägeln gefüllten Koffer explodieren zu lassen, und wird dabei erschossen. Alles Anschläge der vergangenen Woche, zwei islamistische, ein islamophober. Zum Schrecken der sich häufenden Attentate gehört, dass niemand sicher sein kann, worauf sie hinauslaufen. Wird es den Provokateuren gelingen, die westlichen Gesellschaften zu spalten?

Über Francis Fukuyama und das von ihm Anfang der neunziger Jahre diagnostizierte Ende der Geschichte lacht heute jeder (ein bitteres Lachen natürlich). Doch weit schwieriger ist es, die Gründe dafür zu benennen, weshalb eigentlich das vom Westen installierte System des liberalen Rechtsstaats den globalen Kampf um Anerkennung nicht befrieden konnte. Aus der sehr grundsätzlichen Perspektive, auf die es Fukuyama ankam, müsste dieses System doch aufgrund seiner weltanschaulichen Neutralität wie kein anderes in der Lage sein, Angehörigen aller Kulturen, Religionen, Ethnien, Nationen und Klassen ihr Recht zu verschaffen, solange diese selber auch das Recht der anderen respektieren. Warum scheitert nun aber dieses Prinzip der Einbeziehung aller im Fall des Islamismus - und auch, auf einer anderen Ebene, im Fall des rassistischen und nationalistischen Populismus?

Eine geläufige Meinung sieht die Antwort darauf weit außerhalb des Westens, in einer abgeschotteten Black Box namens Religion oder Ideologie, die wie ein außerirdisches Gestirn in der eigenen Welt einschlägt - so, als ob es nur an der unvorhergesehenen Verstocktheit einer bestimmten Kultur (in diesem Fall der des Islams) liege, dass das System seine gewohnte Konfliktlösungsfähigkeit nicht ausspielen kann. Das ist eine Antwort, die in ihrer Zirkellogik (sie hassen uns eben, das Böse ist halt böse) nur begrenzt etwas erklärt.

Der indische Publizist Pankaj Mishra sucht die Antwort in seinem neuesten Buch nun in der entgegengesetzten Richtung: in der Moderne selbst, die der Westen über die Welt gebracht hat, allerdings weniger in deren Schwächen als in deren allzu imponierender Stärke. Er beschäftigt sich mit den höchst widersprüchlichen Gefühlen, die diese Stärke auslöst: Die Wut interpretiert er im Sinne Nietzsches als imaginäre Rache von Zukurzgekommenen, die das Ideal, dem sie nacheifern, selber nicht erreichen können. Den politischen Kern seiner Kritik fasst Mishra ganz am Ende des knapp vierhundert Seiten langen Essays in einem Satz zusammen: Das Ressentiment habe seinen Nährboden in der "Kluft zwischen einer Elite, die sich die erlesensten Früchte der Moderne aneignet und ältere Wahrheiten verachtet, und entwurzelten Massen, die sich von diesen Früchten ausgeschlossen sehen und sich in Gefühle kultureller Überlegenheit, in Populismus und verbitterte Brutalität zurückziehen".

Die Pointe des Buchs ist nun, dass es diese These nicht in erster Linie mit Zitaten und Dokumenten heutiger Empörung belegt, sondern mit Zeugnissen des achtzehnten bis frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und zwar aus der europäischen Hochkultur. Das soll zeigen: Die Wut auf die westliche Moderne ist nichts Exotisches oder Anachronistisches, sondern gehört zu diesem Westen auch selbst. Mishra will bewusst machen, dass der Bruch mit traditionellen Gesellschafts- und Wertsystemen auch schon für Europa und insbesondere die Spätankömmlinge in der Moderne, Deutschland und Russland, ein gewaltiger Einschnitt war, "eines der außergewöhnlichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte". Dass zur europäischen Moderne immer auch die Kritik an ihr gehörte, ist nichts Neues. Doch Mishra lässt nun indische Nationalisten und arabische IS-Kämpfer sich in den Polemiken spiegeln, die Rousseau oder Bakunin gegen die neuartige Zivilisation vorbrachten. Das Ressentiment soll zur Selbstreflexion geläutert werden.

Eine immer wiederkehrende Metapher verdankt das Buch Dostojewskij, der auf seiner Westeuropa-Reise 1862 in London die Weltausstellung besuchte. Über den Kristallpalast dort schreibt er zwei Jahre später in den "Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke": "Wird man das nicht wirklich als die letzte Wahrheit annehmen und endgültig verstummen müssen? All das ist so feierlich, siegesbewusst und stolz, dass es Ihnen den Atem verschlägt. Sie spüren, dass es einer Fülle geistiger Gegenwehr und Ablehnung bedarf, um diesem Eindruck standzuhalten, sich nicht von der Gegebenheit überwältigen zu lassen und den Baal nicht anzubeten, das heißt, das Erreichte nicht für sein eigenes Ideal zu halten."

Die Moderne als Kristallpalast - in diesem Bild steckt schon ein Hauptmotiv des ganzen Buchs: das Einschüchterungspotential einer Zivilisation, deren materieller Standard zugleich den Machtanspruch einer Idee markiert, die eines Fortschritts nämlich, der an die Stelle aller traditionellen Ordnungen die Vernunft setzt beziehungsweise das, was der Markt und die jeweils tonangebenden Intellektuellen als solche reklamieren. Und auch die beiden gegensätzlichen Reaktionen Dostojewskijs sind repräsentativ für alle Gewährsleute Mishras: auf der einen Seite Bewunderung und Faszination, auf der anderen die Panik, durch zu viel Identifikation die eigene Herkunft und damit sich selbst zu verraten.

Die Zerrissenheit, schreibt Mishra in der Einleitung, spiegele sich in ihm selbst: aufgewachsen in einer teils noch ländlichen Region Indiens, bei Eltern, die durch vormoderne Bräuche und Mythen geprägt waren, ist er als in London lebender Autor, der regelmäßig im "Guardian" und in der "New York Review of Books" schreibt, längst Teil einer westlich geprägten kosmopolitischen Elite. In früheren Büchern hat er versucht, sich das Erbe des Buddhismus über europäische Buddhismus-Forscher zu erschließen ("Unterwegs zum Buddha", 2005) oder die Außenperspektive seines Herkommens über die Darstellung indischer, chinesischer und iranischer Denker einer nicht-westlichen Moderne zu rekonstruieren (für dieses Buch, "Aus den Ruinen des Empires", erhielt er 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung). Dieser Hintergrund gibt nun auch dem Versuch, sich in die Zornigen der außereuropäischen Welt über europäische Modernekritiker einzufühlen, eine gewisse biographische Glaubwürdigkeit und Kraft. Der europäische Leser kann durch den verfremdeten Blick auf seine eigene Tradition die Lebenserfahrung des Autors nachvollziehen, wie wenig selbstverständlich die ihn umgebende Moderne in Regionen und Schichten ist, die nicht an ihren Privilegien teilhaben.

Das formale Prinzip des Buchs ist das der Collage: Durch die geschickte Zusammenstellung historischer Zitate unterschiedlicher Orte und Zeiten wird ein Gefühl bedrängender Gegenwärtigkeit erzeugt, in den besten Momenten entsteht ein subversiver Sog. Doch der Preis dieses Verfahrens ist seine Beliebigkeit. Alles geht ständig durcheinander: Länder, Kulturen, Zeiten, Ideologien, Ressentiments, Argumente, Philosophen und Terroristen. Eben noch wird mit Stifters "Nachsommer" beklagt, dass selbst die kleinste Landstadt "in den allgemeinen Verkehr gerissen" wird, schon wird ein UN-Dokument von 1951 zitiert, dass die vom Fortschritt Zurückgelassenen "ihre Vorstellung eines angenehmen Lebens aufgeben müssen".

Mishra genügt die anekdotische Evidenz; am Durchdenken auch nur eines einzigen Gedankens, an der Analyse seiner Quellen und deren Reichweite innerhalb der Gesamtargumentation ist er weniger interessiert. So lässt sich inmitten der unverfrorensten Verallgemeinerungen (mal ist die Moderne "offensichtlich dysfunktional", mal gilt sie ohne nähere Begründung als Kultur, "die unstillbare Eitelkeit und platten Narzissmus fördert") auch keine Entwicklung der Argumente erkennen; spätestens ab dem zweiten Kapitel tritt das Buch gedanklich auf der Stelle, um dann unvermittelt in den Schlusssatz zu münden, die aktuellen Widersprüche unterstrichen "die Notwendigkeit eines wahrhaft verändernden Denkens über das Ich und die Welt".

Der kanadische Autor Michael Ignatieff, der seinerzeit nicht davor zurückschreckte, seine Zustimmung zu Bushs Irakkrieg mit seinem Eintreten für liberale Werte zu begründen, wirft jetzt Mishra vor, er sympathisiere mit der Wut der Dschihadisten, würde deren niedere Motive mit einer "hochgestochenen Weltsicht" ausstatten. Das trifft Mishras Absichten natürlich nicht, aber die argumentative Enthaltung des Buchs provoziert tatsächlich Missverständnisse am laufenden Band - und droht damit auch die Fragen zu verdecken, die ihm seine Brisanz geben.

Dass die Moderne, wie Mishra immer wieder schreibt, die Religionen und andere Traditionen "verachtet", stimmt offenkundig nicht (das haben nur einige ihrer Repräsentanten getan). Aber sie gibt den Gesellschaften einen anderen Legitimationsgrund; wie das Leben insgesamt wird die Religion individualisiert (wie sonst soll ein Zusammenleben unterschiedlicher Bekenntnisse auch möglich sein?). In allem soll es ganz und gar auf den Einzelnen ankommen; doch gleichzeitig sehen sich diese Einzelnen in vielen Weltgegenden wieder auf die kollektiven Grenzen ihrer Gesellschaft oder sozialen Schicht zurückverwiesen, die es ihnen nicht erlauben, dem neuen Anspruch gerecht zu werden - etwa, weil sie keine Arbeit und auch sonst nicht viel zu sagen haben.

Womöglich ist es ebendieser Zwiespalt, der Sätze wie diese vielerorts nicht wie ein längst verbrauchtes Klischee aussehen lässt, sondern ganz aktuell: "Es gibt keine aufrichtigen Freundschaften mehr", oder: "Finanzsysteme korrumpieren die Seele". Beide Sätze stammen von Rousseau, den Mishra mit viel Mut zur selektiven Lektüre als Kronzeugen seiner Phänomenologie des Zorns präsentiert: "Auf seinem Weg von der Opferrolle zu moralischer Überlegenheit vollführte Rousseau eine Dialektik des Ressentiments, die in unserer Zeit alltäglich geworden ist." Für die Abgehängten aller Länder sei das Ressentiment seither "die Ersatzmetaphysik der modernen Welt".

Die Zitate, die Mishra von gegenwärtigen Islamisten anführt, dokumentieren die Entwurzelung als Hauptursache der Wut nicht ganz so beredt wie die älteren Fundstücke. Der politische Kern seiner Kritik bleibt die Ungleichheit der globalen Lebensverhältnisse, der materiellen Chancen ebenso wie der Möglichkeiten der politischen Teilhabe. Erst durch sie kann die Individualisierung als jene "Despiritualisierung der Gesellschaft" empfunden werden, als die sie Mishra mit einem Wort Eric Voegelins beklagt, als ein Vakuum, das in einer tollkühnen Übersprungshandlung manche mit Gewalt zu füllen suchen. Die Ungleichzeitigkeiten der kollektiven Erfahrung können explosiv sein. Die philosophische Einfühlung, die das Buch dem westlichen Leser über den Umweg seiner eigenen Widerspenstigkeitsgeschichte abverlangt, hat dennoch ihren Sinn: Sie erinnert daran, dass die Parole "Man muss absolut modern sein", die heutzutage Medienmanager für ihre Digitalisierungsprojekte bemühen, nicht mit Ignoranz verwechselt werden darf, und auch nicht mit Banalisierung.

MARK SIEMONS.

Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns: Eine Geschichte der Gegenwart". Übersetzt von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff, S. Fischer, 416 Seiten, 24 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2017

Warum sie uns hassen
Pankaj Mishra führt in „Das Zeitalter des Zorns“ den
aktuellen Terrorismus und Antimodernismus auf Rousseau zurück
VON CLAUS LEGGEWIE
In akademischen Debatten werden Beobachtungen und Bemerkungen gelegentlich mit Namen von Klassikern garniert, die für Argumente stehen sollen. Dafür eignen sich renommierte Intellektuelle der Gegenwart, aber auch die „toten weißen Männer“ der Ideengeschichte. Im jüngsten Buch des indischen Autors Pankaj Mishra ist es Jean-Jacques Rousseau: „ein zorniger Außenseiter in den Pariser Salons, (er) brandmarkte die moderne Kommerzgesellschaft wegen ihrer Verderbtheit und Ungleichheit, lange bevor Adam Smith die klassisch-liberale und moderne kosmopolitische Vision eigennütziger und konkurrierender Individuen und Nationen formulierte“. Wenn Smith die Moderne darstellt, steht der vor mehr als zweihundert Jahren geborene Antipode Rousseau für den ubiquitären Hass, den Mishra heute bei Dschihadisten, den Wählern von Nigel Farage, Donald Trump und Marine Le Pen sowie in der Gefolgschaft indischer, russischer, chinesischer und türkischer Autokraten antrifft.
In dem gut geschriebenen Buch des klugen Autors werden damit leider alle Katzen theoriegrau. Mishras Diagnose über das Zeitalter des Zorns bekommt die jeweiligen Träger dieses Seelenzustands ebenso wenig zu fassen wie die längst nicht mehr bloß akademische Überlebensfrage nach den Ursprüngen des diffusen Antriebsgefühls, das in drei Gestalten auftritt: Zorn, Hass und Ressentiment. Um die Gründe der Radikalisierung zu erfahren, hat Mishra weder soziologische Analysen konsultiert noch hat er sich, wie in früheren Arbeiten, als ethnografischer Feldforscher aufgemacht. Stattdessen ist er in die westliche Ideengeschichte eingetaucht, „um unser eigenes Zeitalter des Zorns zu verstehen. Im späten 19. Jahrhundert verübten Franzosen Bombenattentate auf Varietétheater, Cafés und die Pariser Börse, und ein französisches Anarchistenblatt rief dazu auf, das ‚Bellecour‘ zu zerstören, ein Varietétheater in Lyon, in dem ‚die Crème der Bourgeoisie und des Kommerzes‘ nach Mitternacht zusammenkam. Diese Attentäter und Schreiberlinge haben mehr gemeinsam mit den vom IS inspirierten jungen EU-Bürgern, die im November 2015 auf einem Rockkonzert, in Bars und Restaurants in Paris nahezu zweihundert Menschen massakrierten, als wir glauben. Damals wie heute war das Gefühl, von arroganten und betrügerischen Eliten gedemütigt zu werden, weit verbreitet, und zwar quer über nationale, religiöse und rassische Trennlinien hinweg.“
Damals wie heute: Dieser historische Spagat scheitert schon am Zentralbegriff des Buches, dem Ressentiment. Im französischen Original bezeichnet er den heimlichen, tief sitzenden Groll eines Individuums über eine nicht bearbeitete Verletzung und Kränkung. Sören Kierkegaard erblickte im Ressentiment eine spezielle Art von Neid als das „negativ-einigende Prinzip der neuen demokratischen Öffentlichkeit“, der dezidiert antiegalitäre Friedrich Nietzsche sah, durch Dostojewski inspiriert, „ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache … unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen“. Hannah Arendt identifizierte einen „gewaltigen Zuwachs an gegenseitigem Hass und ein gewissermaßen universales Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-Fallen“.
Aus diesen Quellen schöpft bei Mishra „ein Ressentiment, das immer da ist und immer stärker wird, das die Zivilgesellschaft vergiftet und die politische Freiheit untergräbt und das gegenwärtig weltweit eine Wende hin zu Autoritarismus und gefährlichen Formen von Chauvinismus herbeiführt“. Die Wutbürger bejahen das moderne Gleichheitsversprechen, das aber mit dem Gefälle an Macht, Bildung, Status und Privatbesitz kollidiert.
Wo bleibt da der Gärtner von Ermenonville? „Rousseau besaß ein tiefes Verständnis des Ressentiments, auch wenn er den Ausdruck selbst nie benutzte – Rousseau, der erste empörte Diagnostiker der kommerziellen Gesellschaft und der Wunden, die sie der menschlichen Seele durch die Pflicht zur Anpassung an ihre mimetischen Rivalitäten und Spannungen zufügt.“ Mishra erhebt Rousseau, der im Original selten zu Wort kommt, zum Kronzeugen einer speziellen Kritik an der Moderne: „Vor dem Hintergrund des aktuellen, nahezu universellen politischen Zorns scheint es, als habe dieser ‚größte und streitbarste Hinterwäldler der Geschichte‘ besser als irgendjemand sonst den aufrührerischen Reiz verstanden und verkörpert, den die Opferrolle in Gesellschaften bietet, die auf dem Streben nach Reichtum und Macht basieren.“
Verkörpert und verstanden: Das suggeriert einen perfekten hermeneutischen Zirkel, der sich realhistorisch an der Gestalt Voltaires herausbilden konnte, dieses mondänen, zu Geld gekommenen Salonphilosophen, dem Rousseau nach anfänglicher Bewunderung zuruft „Ich hasse Sie!“ Den Philosophenstreit interpretiert Mishra mit dem Gegenrevolutionär Joseph de Maistre als das „unerledigte Problem der Zivilisation“: „Auf der einen Seite stand der ‚Vertreter der siegreichen, herrschenden Stände und ihrer Wertungen‘, auf der anderen ein gemeiner ‚Plebejer‘, der sein urwüchsiges Ressentiment gegen eine überlegene Zivilisation nicht zu überwinden vermochte.“
„Rousseau“ taucht auf den gut 400 Seiten in vielen Gestalten auf: in den Freiheitskämpfen der deutschen Romantiker und Guiseppe Mazzinis, im Protofaschismus Gabriele D’Annunzios, bei Bombenlegern aller Couleur, in Adolf Hitler und Abu Musab al-Zarkawi. Rousseaus Urenkel sind Islamisten und Verehrer Trumps, Erdoğans und Putins, die nicht aus religiösen, kulturellen und ideologischen Motiven handeln oder vornehmlich an materieller Ungleichheit leiden. Mit „Rousseau“ erklärt Mishra auch, „wie und warum ein Geistlicher wie Ayatollah Chomeini aus dem Dunkel hervorkommen und zum Führer einer Volksrevolution in Iran werden konnte; warum viele von der Moderne verführte junge Menschen schließlich Zorn auf die Aufklärungsideale Fortschritt, Freiheit und Vervollkommnung des Menschen entwickeln; warum sie Erlösung durch Glauben und Tradition predigen und an die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie, Gehorsam und Unterordnung glauben“.
Gelegentlich meint man Mishra vom Leiden der Intellektuellen des „globalen Südens“ sprechen zu hören: „Der Schlüssel zum Verhalten des Nachahmers liegt nicht etwa in irgendeinem Kampf gegensätzlicher Kulturen, sondern umgekehrt im unwiderstehlichen Drang nach Anpassung und Imitation: in der Logik der Faszination, der Nachahmung und der aufrechten Selbstbehauptung, die selbst die größten Rivalen unzertrennlich miteinander verbindet.“ Der Husarenritt durch die Gefühlsgeschichte führt am Ende zur unfreiwilligen Apologie des „Islamischen Staates“. „Er ist der geschickteste und bestausgestattete Händler in der florierenden internationalen Unzufriedenheitsökonomie. Die Attraktivität der Demagogen liegt in ihrer Fähigkeit, allgemeine Unzufriedenheit, das Gefühl, dass die Dinge entgleiten, Ressentiments, Enttäuschung und wirtschaftliche Unsicherheit aufzugreifen und in einen Plan umzuwandeln, etwas zu tun.“
Wer wissen will, warum junge Männer Trucks in einen Weihnachtsmarkt steuern oder beliebige Passanten abstechen, dem antwortet Pankaj Mishra: „Vielen fällt es leicht, ihren Zorn gegen die angeblich kosmopolitische und entwurzelte kulturelle Elite zu richten. Mehr als jemals zuvor braucht man in Krisenzeiten Hassobjekte, und reiche Transnationale verkörpern in geeigneter Weise die Laster einer verzweifelt erstrebten, aber aufreizend unerreichbaren Moderne: Anbetung des Geldes, Mangel an edlen Tugenden wie Patriotismus. So fördert die Globalisierung zwar die Integration geschäftstüchtiger Eliten, ansonsten aber politisches und kulturelles Sektierertum.“
Zu dem bestechenden, aber bekannten Befund ist Mishra, der weit bessere Bücher geschrieben hat, auf seltsamen Umwegen gelangt. Das Duell Rousseaus mit Voltaire ist Holzschnitt, der Sprung aus dem späten 18. ins frühe 21. Jahrhundert ein Kurzschluss, die pauschale Kritik an der Moderne und am „Liberalismus“ einäugig, die Gleichsetzung der Motive seiner sämtlichen Feinde eine grandiose Vereinfachung. Nicht weil Islamisten und Islamophobe aus dem gleichen Holz sind, stürzen sie die Welt ins Chaos, sondern weil die extremen Antagonisten im „Westen“ denselben Feind gewählt haben, der wahrlich mehr Wertschätzung verdient. Die Nonchalance, mit welcher der „Liberalismus“ in toto verabschiedet wird, führt in eine postkoloniale Aporie und eine unpolitische Distanz, ganz so, als möge die unrettbare Welt ruhig zugrunde gehen.
Nach anfänglicher Begeisterung
ruft Rousseau dem mondänen
Voltaire zu: „Ich hasse Sie!“
Die Gleichsetzung der Motive
sämtlicher Feinde der Moderne
ist eine grobe Vereinfachung
Das Ressentiment analysieren: Pankaj Mishra 2015 in der Siemens-Stiftung in München.
Foto: Stephan Rumpf
Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 416 Seiten, 24 Euro.
E-Book 19,99 Euro.
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eine Art geistesgeschichtliche und von viel Literatur getragene Vorgeschichte zur gegenwärtigen Diskussion um die Globalisierung Georg Diez Der SPIEGEL - LiteraturSPIEGEL 20171123