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In seinem autobiographischen Roman 'Im Herzen der Gewalt' rekonstruiert der französische Bestsellerautor Édouard Louis die Geschehnisse einer dramatischen Nacht, die sein Leben für immer verändert.
Auf der Pariser Place de la République begegnet Édouard in einer Dezembernacht einem jungen Mann. Eigentlich will er nach Hause, aber sie kommen ins Gespräch. Es ist schnell klar, es ist eine spontane Begegnung, Édouard nimmt ihn, Reda, einen Immigrantensohn mit Wurzeln in Algerien, mit in seine kleine Wohnung. Sie reden, sie lachen, aber was als zarter Flirt beginnt, schlägt um in eine Nacht, an…mehr

Produktbeschreibung
In seinem autobiographischen Roman 'Im Herzen der Gewalt' rekonstruiert der französische Bestsellerautor Édouard Louis die Geschehnisse einer dramatischen Nacht, die sein Leben für immer verändert.

Auf der Pariser Place de la République begegnet Édouard in einer Dezembernacht einem jungen Mann. Eigentlich will er nach Hause, aber sie kommen ins Gespräch. Es ist schnell klar, es ist eine spontane Begegnung, Édouard nimmt ihn, Reda, einen Immigrantensohn mit Wurzeln in Algerien, mit in seine kleine Wohnung. Sie reden, sie lachen, aber was als zarter Flirt beginnt, schlägt um in eine Nacht, an deren Ende Reda Édouard mit einer Waffe bedrohen wird.
Indem er von Kindheit, Begehren, Migration und Rassismus erzählt, macht Louis unsichtbare Formen der Gewalt sichtbar. Ein Roman, der wie schon 'Das Ende von Eddy' mitten ins Herz unserer Gegenwart zielt - politisch, mitreißend, hellwach.
Autorenporträt
Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman 'Das Ende von Eddy', in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Seine Bücher erscheinen in 30 Ländern und werden vielfach fürs Theater adaptiert und verfilmt. Über seine literarischen Positionen gab er u.a. Auskunft als Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin (2018), bei der Mosse Lecture an der Humboldt-Universität Berlin (2019) oder 2023 bei den Tübinger Poetikvorlesungen. Zuletzt erschienen 'Wer hat meinen Vater umgebracht' und 'Die Freiheit einer Frau'. Édouard Louis lebt in Paris.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Seit seinem gefeierten Debütroman "Das Ende von Eddy" gehört Édouard Louis, 24, zu den bedeutendsten französischen Schriftstellern seiner Generation. Die Kritiker jubeln, zu Recht: Er ist in der Tat "ein seltener Glücksfall für die Sprache und die Gesellschaft". Louis ist homosexuell, stammt aus einfachen Verhältnissen und wurde als junger Schwuler von seinen Eltern und Mitschülern misshandelt. Während er in seinem Debüt seine Emanzipation von diesem dumpfen und homophoben Milieu in einem Dorf in Nordfrankreich erzählt, rekonstruiert er "Im Herzen der Gewalt" ein traumatisches Erlebnis, das beinahe sein Leben zerstört hätte. In der Nacht des Heiligabends in der Nähe des Pariser Place de la République trifft er auf den Algerier Reda und nimmt ihn mit in seine Wohnung. Was als zarter Flirt beginnt, mündet beinahe in Mord: Reda bedroht Édouard mit einer Pistole und vergewaltigt ihn mehrfach. Diese Nacht hat Louis selbst erlebt. Als Erzähler gelingt ihm eine literarisch geniale Konstruktion: Bei seinem Versuch, das Unfassbare erzählend zu begreifen, offenbart er Widersprüche und Irrtümer. Und es gibt noch eine weitere Version seines subjektiven Erlebens: Louis belauscht seine Schwester, die ihrem Mann erzählt, was wiederum Édouard ihr zuvor berichtet hat.

© BÜCHERmagazin, Christiane von Korff

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2017

Die zweite Person im eigenen Körper
Édouard Louis erzählt von einer Vergewaltigung, einem Mordversuch. Sein autobiografischer Roman
„Im Herzen der Gewalt“ ist ein großes Buch über die Macht der Sprache, das Unsichtbare zu zeigen
VON ALEX RÜHLE
Die Weihnachtsnacht 2013. Der junge Schriftsteller Édouard Louis kommt von einem Abendessen mit seinen Lebensfreunden Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie. Auf der Place de la République macht ihn ein junger Mann namens Reda an. Louis will zunächst allein nach Hause, aber Reda erregt ihn so sehr, dass er ihn irgendwann mit in seine Wohnung nimmt. Sie lieben sich, mehrmals, zwischendurch erzählen sie einander ihr Leben: Reda, der algerische Kabyle, der hier illegal am Rand der Stadt und der Gesellschaft lebt; Édouard, der aus der tiefsten französischen Provinz und von ganz unten kommt und jetzt im Zentrum von Paris lebt, im doppelten Sinne, schließlich ist soeben sein erster, autobiografischer Roman erschienen, „Das Ende von Eddy“, der gerade deshalb so einschlug in Paris, weil hier Menschen gezeigt wurden, die sonst nie zu Wort kommen im französischen Literaturbetrieb, Abgehängte, Langzeitarbeitslose, reaktionäre Proleten, die selbst viel Gewalt erfahren haben und diese an ihre Kinder weitergeben. All das erzählt Louis Reda in dieser Nacht natürlich nicht, aber er lässt ihn spüren, wie stolz er auf den eigenen sozialen Aufstieg in die sonst so hermetische Kulturaristokratie ist. Als Louis bemerkt, dass Reda ihm am Ende der Nacht sein Handy und das iPad stehlen will und er ihn deshalb zur Rede stellt, vergewaltigt ihn Reda und versucht ihn umzubringen.
Um diese eine Nacht kreist Édouard Louis’ zweiter Roman. Man weiß von Anfang an, auf welche Gewaltszenen es hinausläuft, das Buch setzt ein, als Louis am Morgen danach frenetisch seine Wohnung putzt, er will alle Spuren, den Geruch, das Blut, den Schmerz eliminieren. Man fragt sich da noch, ob das wirklich sein muss, diese totale Selbstentblößung und literarische Aufarbeitung einer derart traumatischen Erfahrung. Aber wenn man nach fünf Stunden atemlos und beklommen wieder auftaucht aus diesem Buch, hat man einen unglaublich spannenden Text gelesen, in dem man auf die Katastrophe zusteuert wie auf einem glatten, abschüssigen Boden. Um einen spannenden Text zu lesen, reicht es freilich, einen gutgezimmerten Krimi zu kaufen. „Im Herzen der Gewalt“ aber ist mehr, viel mehr: ein Buch über die Macht der Sprache. Über die Konstruktion von Wahrheiten. Über die unterirdischen Schockwellen einer traumatischen Erfahrung – aber Louis‘ Schwester Clara würde jetzt sicher sagen, das ist doch wieder nur kariertes Professorengerede.
Zu Clara kommen wir gleich, kurz nach der Vergewaltigung fährt Louis für einige Tage zu ihr, ausgerechnet, in sein Heimatdorf in der Picardie, aus dem er einst so unbedingt fliehen musste und in das er seither kaum je zurückkam. Durch diese übersprungshafte Heimkehr verbindet er schon geografisch die Erfahrung der Vergewaltigung mit seinem ersten Roman, fährt er doch ins Herz der anderen Gewalterfahrung zurück, der jahrelangen Misshandlungen, die er als zartes Außenseiterkind und junger Schwuler von Seiten seiner Eltern und Mitschüler erlebt hat.
Der Originaltitel „Histoire de la violence“ rekurriert auf Foucault und dessen Versuch, mit Büchern wie der „Geschichte des Wahnsinns“ oder der „Geschichte der Sexualität“ Fragen nach Macht und Ausgrenzung zu umkreisen. Louis selbst betonte in Interviews mehrfach, dass die Klammer all seiner Texte die Frage nach der Gewalt sei: „Ich wollte aus der Gewalt einen literarischen Ort machen, so wie Marguerite Duras das mit der Leidenschaft gemacht hat oder Claude Simon mit dem Krieg. Es geht um die Gewalt, die meist unsichtbar ist. Genau darin besteht die Kraft der Literatur: Mit Worten das Unsichtbare zu zeigen.“
Er selbst, und das ist der eigentliche erzählerische Clou dieses Buchs, schreibt die meiste Zeit über aus der Warte eines Unsichtbaren: Eines Abends, er steht im Haus seiner Schwester hinter einer Tür, bekommt er mit, wie Clara ihrem Mann die Geschichte der traumatischen Nacht in ihren eigenen Worten erzählt, schnoddrig, verzerrt, oft falsch und getränkt von Vorurteilen. Louis schiebt dann, kursiv abgesetzt, eigene Kommentare ein, meist korrigierend, wütend, hilflos, manchmal auch nur ergänzend, aber er bleibt dennoch für den Rest des Textes in seinem Versteck und lässt weiterhin sie das Ganze erzählen, etwa wie er Reda nach dem Diebstahl des iPhones verständnisvoll zuquatscht: „Sogar in der Situation kann er nicht aufhören mit seinem Feine-Leute-Gerede, wie ein Minister, kein Wunder, dass dieser Reda noch wütender wurde, und er sagt, wenn du willst, tun wir so, als wäre das nie passiert, das ist ganz unwichtig (das aus ihrem Mund zu hören, macht tatsächlich deutlich, wie lächerlich mein Verhalten war).“
Auch in „Eddy“ gab es kursive Einschübe: Dort waren es die Sätze und Formulierungen seiner Eltern und Mitschüler, die Sprache der anderen, von früher, die der Erinnerungsstrom wie fremdes Treibgut aus der verhassten Vergangenheit ins eigene Sprechen spült. Jetzt sind seine eigenen, ergänzenden Einschübe kursiv, während er in erster Linie seine Schwester zu Wort kommen lässt, samt ihrer homo- und xenophoben Sarkasmen, wie kann man auch einen Kabylen mitnehmen. So sind die beiden Bücher fast wie Echokammern konstruiert, die Kindheitsprägung und der eigene Lebens- und Weltentwurf, das eigene und das fremde Sprechen gehen ineinander über und durchkreuzen einander.
Das Thema der verfälschenden Nacherzählung ist eines der Leit- und Leidmotive dieses Buches: Seine Freunde de Lagasnerie und Eribon überreden Louis, Anzeige zu erstatten. So gerät er mit seiner Geschichte in die übliche Betreuungs- und Rechtsmaschinerie, und ob er nun im Krankenhaus, beim Therapeuten oder auf der Polizeistation von seinem Fall erzählt, immer hat er das Gefühl, dass ihm das Geschehen im Erzählen entgleitet und durch die Zuhörenden und die Art ihrer Fragestellungen gelenkt und verfälscht wird: „Ich erkannte meine eigenen Erinnerungen nicht wieder, als ich sie schilderte; die Fragen der beiden Beamten zwangen mich, die Nacht mit Reda anders darzustellen, als ich es gewollt hätte, ich wusste, wenn es mit dem Bericht so weitergehen würde, dann würde es wegen ihrer Fragen oder wegen der Richtung, die sie mir aufdrängten, unmöglich, noch einmal zurückspulen.“
Noch unheimlicher ist freilich, dass er in sich selbst ihm bislang fremde Stimmen hört: Louis, der von sich schreibt, der Rassismus sei das gewesen, was er „immer als das meinem Wesen radikal Entgegengesetzte empfunden hatte, das absolut andere meiner selbst“, merkt nun, wie „eine zweite Person in meinen Körper eingezogen ist“: Alle dunkelhäutigen Männer machen ihm auf einmal rasende Angst, er senkt den Kopf, sobald sich ihm ein Schwarzer oder Araber nähert.
So wird ihm nicht nur seine Geschichte, sondern irgendwann auch noch er selbst sehr fremd. Auch in diesem Zusammenhang kann man „Das Ende von Eddy“ und dieses Buch als Spiegeltexte über Leid und Schmerz lesen: „Eddy“ begann mit dem Satz: „Das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.“ „Im Herzen der Gewalt“ endet mit einem Zitat von Imre Kertész: „Ich schreibe nicht, um Freude zu finden, sondern suche mit meinem Schreiben den Schmerz, den größtmöglichen, beinahe unerträglichen Schmerz, ja, das ist wahrscheinlich der Grund, denn der Schmerz ist die Wahrheit, auf die Frage jedoch, was die Wahrheit ist, gibt es eine sehr einfache Antwort. Wahrheit ist das, was verzehrt.“
Man muss aufpassen, dass einem Lob nicht zu Pathosformeln gerinnt, aber Édouard Louis hat im Kertész’schen Sinne zwei sehr wahre Bücher geschrieben.
Er berichtet die meiste Zeit
über aus der
Warte eines Unsichtbaren
„Ich erkannte meine eigenen
Erinnerungen nicht wieder,
als ich sie schilderte …“
Der junge Autor, eine Stimme der französischen Öffentlichkeit: Édouard Louis (links), mit seinem Mentor Didier Eribon (Mitte) und Geoffroy de Lagasnerie, dem er sein neues Buch gewidmet hat, im Rundfunkstudio France Culture für die Sendung „Une vie d’artiste“ von Aurelie Charo.
Foto: Twitter
Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 224 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2017

Lüge ist die Rettung

In seinem Buch "Im Herzen der Gewalt" beschreibt Édouard Louis eine Nacht, die er nie vergessen wird. Und die er, wie sein ganzes Leben, neu erfinden muss, um sich selbst nicht zu verlieren

Das Leben, so hört man immer wieder, sei ein Roman, eine Geschichte, welche die Menschen einander erzählen, eine Fiktion - nicht deshalb, weil es sich bei seinen wesentlichen Bestandteilen, bei Lust und Leiden, bei Schmerz oder Glück, nur um Einbildungen handelt; sondern weil sich das Leben erst dann von der reinen Existenz unterscheidet, wenn ihm ein Entwurf zugrunde liegt, eine Vorstellung davon, wer man sein will, eine Idee, aus der sich so etwas wie Identität entwickeln kann. Welche Rolle jemand in dieser Geschichte spielt, das hängt auch von der eigenen Vorstellungskraft ab, vom Vermögen, jene Figur zu erschaffen, die man sein möchte, davon also, wie sehr man sich als Autor seiner eigenen Geschichte erlebt. Wenn die Freiheit fehlt, sie zu gestalten, kommt einem sein Leben weniger wie die eigene Schöpfung vor, sondern wie eine unbezweifelbare Realität. Und die Vorstellung, ihr mit Hilfe der Phantasie entkommen zu können, allenfalls wie ein Märchen.

Es ist, aus dieser Perspektive, ein naheliegender Verdacht, dass das Geschwätz von Konstruiertheit und Konstruierbarkeit der Wirklichkeit, dass die Idee der Fiktionalität der Welt oder die These von der Fluidität der Identität nur der Sophismus ein paar weltfremder Akademiker ist, auch nur so eine Geschichte, die sich vor allem jene erzählen, die so prätentiöse Worte kennen wie Fiktionalität und Fluidität. Und zwar genau aus diesem Grund: weil sie all die teuren Wörter und komplizierten Lügen nicht umsonst gelernt haben wollen und sie nun als Barriere gegen die Zumutungen des wahren Lebens nutzen. Sie können sich distinguierte Kleider zulegen und kultivierte Sitten, Bildung und neue Namen, aber dass es sich dabei nur um die eine Illusion handelt, das merken sie spätestens, wenn dann doch das Schicksal zuschlägt, wenn es ein Leid über sie bringt, dass sich nicht wegdiskutieren lässt, Verletzung, Krankheit oder Tod, einen Moment der Wahrheit, in dem die physische Gewalt ihre Macht über den Geist beweist.

In seinem Buch "Im Herzen der Gewalt" beschreibt der Schriftsteller Édouard Louis so einen Moment, einen Angriff, der nicht nur einer auf seinen Körper war, sondern, was ihn viel härter traf, eine Attacke auf sein Denken, seine Wahrheit, seine Identität. An einem Weihnachtsabend vor ein paar Jahren wurde er, nach einer spontanen Liebesnacht, mit einem Schal gewürgt, vergewaltigt, mit einem Revolver bedroht - ein Akt der Gewalt, so unmittelbar, dass der Intellekt kaum etwas gegen die Reaktionen des Körpers ausrichten kann, gegen den Ekel und den Schmerz, die Scham, den Hass, die Angst. Was ihm passiert ist, lässt sich nicht beschreiben. Sogar die Sprache selbst, so schildert es Louis, verschwört sich gegen ihn, überall hört er die Wörter "Waffe" oder "Schal" und vor allem "Reda", den Namen des Täters, auch wenn tatsächlich von ganz anderen Dingen die Rede ist. Es sind die anderen, die nun seine Geschichte erzählen, die Polizei, die Ärzte, seine Familie, sogar die Freunde mit ihrem Mitleid, alle sprechen für ihn, drehen ihm seine Worte um, pressen seinen Bericht in ihre Kategorien, in die Raster von Psychologie, Soziologie oder Kriminalistik.

Und trotzdem ist "Im Herzen der Gewalt" nicht nur ein Buch darüber, wie Louis die Kontrolle verliert, die Macht über seine Geschichte; sondern vor allem darüber, wie er sie wiedergewinnt. Wie er, nach einer Nacht, in der er sein musste, wer er nicht sein wollte, seine Worte wiederfindet und so den Menschen, der er sein will. Das ist der Grund, warum Louis sein Buch einen Roman nennt: nicht weil er sich das alles ausgedacht hätte, sondern weil die Literatur das einzige Mittel ist, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, seiner Wahrheit, beziehungsweise, was kein Widerspruch ist, "einer Wahrheit zu widerstehen, die versuchte, sich mir aufzudrängen", wie Louis schreibt. Es ist die Lüge, der Louis seine Rettung verdankt, "die einzige Waffe, der ich uneingeschränkt vertrauen konnte", wobei die Fähigkeit zu lügen, so erklärt Louis mit einem Zitat von Hannah Arendt, eben vor allem "das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern" bezeichnet.

Es ist ja eben nicht die Wahrheit, nicht die Geschichte von Édouard Louis, die in den Tagen nach der Tat erzählt wird, von seiner Schwester Clara etwa, die sie im Buch ihrem Mann erzählt, während sich Louis hinter einer Wand versteckt. Nicht einmal in seinem eigenen Bericht, den er der Polizei zu Protokoll gibt, erkennt er wieder, was er erlebt hat, weil sich die Fragen der Beamten gar nicht für die ganze Wahrheit interessieren. Nur für Details, die ein Zerrbild jener Nacht ergeben, für den Ablauf oder das Profil des Täters, für seine Herkunft, aber nicht einmal dabei können sie differenzieren: Dass Reda kein Araber, sondern ein Kabyle war, läuft für sie auf das Gleiche hinaus. Vor allem geben sie Louis keine Chance zu vergeben. Louis hasst Reda, ihm noch mal zu begegnen, ist sein größer Albtraum, aber er will ihn nicht aus Barmherzigkeit verschonen, sondern um auf die Gewalt, die er erlitten hat, anders zu antworten als mit noch mehr Gewalt, mit Rache, Gefängnis, Repression, um die Autonomie zurückzugewinnen, die in dieser Nacht so brutal verletzt worden ist, indem er seinen eigenen Weg findet, damit umzugehen. "Für mich", sagt Louis im Gespräch, "war das das gewalttätigste Erlebnis, weil ich vollständig die Macht über alles verloren habe." "Im Herzen der Gewalt", sagt er deshalb, "ist ein Buch über zwei Vergewaltigungen."

Dass er gezwungen wird, das Geschehene wieder und wieder zu erzählen, so fürchtete Louis damals, führe nur dazu, "dass es sich umso unauslöschlicher in mich einschreiben würde, in meinen Körper, in mein Gedächtnis". Sogar seine besten Freunde, der Soziologe Didier Eribon und der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie, die im Buch mit ihren echten Vornamen auftreten, erlebt er als Akteure dieser Fortschreibung, weil sie ihm raten, Anzeige zu erstatten und ihn so "in eine Geschichte sperren", die nicht seine ist. Louis will nicht auf diese eine Nacht reduziert werden, will nicht von nun an als der Typ bekannt sein, der Opfer einer schrecklichen Gewalttat wurde. Und doch ist es am Ende seine Rettung, dass er seine Geschichte publik macht, sie wieder und wieder erzählt, mit dem Risiko, dass sie an ihm kleben bleibt wie eine Marke: "Je mehr ich darüber rede, desto weniger gehört diese Geschichte zu mir", sagt Louis heute. Er weiß, dass er diese Nacht niemals vergessen wird. Um nicht ihr Opfer zu werden, musste er sie deshalb gewissermaßen neu schreiben, musste, wie er schreibt, "eine Erinnerung . . . konstruieren, die mir erlaubt, mich der Vergangenheit zu entledigen."

Am allerwenigsten aber will Louis werden, was er vor dieser Nacht mit aller Kraft bekämpft und zurückgewiesen hat, "das absolut andere meiner selbst": ein Rassist. Monatelang, so beschreibt es Louis, war seine Angst so groß, dass er sich kaum dagegen wehren konnte: Wenn er Schwarze in der Metro sah oder Araber, auch er unterschied da nun nicht mehr, senkte er den Blick und flehte stumm "Tu mir nichts". Das Schlimme für Louis dabei ist nicht einfach, dass sich seine politische Haltung verändert, sondern dass sich dabei genau jenes Weltbild in ihm breitmacht, unter welchem er selbst so lange gelitten hat: "Eine zweite Person war in meinen Körper eingezogen", schreibt er. "Ich war die anderen geworden."

Man muss, um zu verstehen, wer diese anderen sind, ein paar Jahre zurückgehen, zu den Anfängen der Geschichte von Édouard Louis, zu den Anfängen der Lüge, die ihm half, seiner Vergangenheit zu entkommen: nach Hallencourt in der Picardie, dem Dorf im Norden Frankreichs, aus dem er kommt. Mit "Das Ende von Eddy", dem Roman über seine Kindheit als homosexueller Außenseiter in einem trostlosen, rassistischen und schwulenfeindlichen Milieu, wurde Louis vor drei Jahren in Frankreich bekannt. So schonungslos hatte kaum jemand zuvor die Gewalt und das Ressentiment seziert, die im sozialen Elend der Provinz gedeihen, nicht einmal Eribon in seiner "Rückkehr nach Reims".

Louis schildert, wie er, Eddy Bellegueule, die Schwuchtel, wie sie ihn nannten, merkt, dass er nicht so ist wie die anderen Jungs; wie seine Stimme, sobald er sprechen lernt, heller wird, und er beim Reden mit den Armen flattert; wie er sich mehr für Tanz als für Fußball interessiert; wie er getreten und bespuckt und ausgeschlossen wird; wie er versucht, all das zu ändern, ein "echter Kerl" zu werden, wie es sich sein Vater wünscht, dazuzugehören. Wie er irgendwann merkt, dass nicht sein Anderssein das Problem ist, sondern all das, was die meisten Menschen um ihn für die Norm halten: ihre Wahrheit. Und deshalb war "Das Ende von Eddy" nicht einfach die Abrechnung des Jungen, der es aus diesen Verhältnissen an die École Normale Supérieure nach Paris geschafft hat. Es war der Versuch, die sozialen Hintergründe dieser Ressentiments sichtbar zu machen, die Enge dieses Lebens, welche die Menschen blind dafür macht, dass auch ein anderes möglich ist, die Kultivierung der Perspektivlosigkeit, die den sozialen Aufstieg grundsätzlich wie den Verrat an der eigenen Klasse erscheinen lässt und eine akademische Laufbahn wie die von Louis fast schon wie eine perverse Phantasie. Nicht nur Eddy, auch seine Peiniger sind Opfer der Geschichten, die sie sich erzählen.

Wie man es aber schafft, diese Geschichte zu ändern, ein anderer zu werden, das ist der Kern von Louis' Büchern: Er macht sich auf die Flucht, verabschiedet sich von Eddy, schafft es an die Universität der Picardie, liest Eribon, dessen Buch, wie er sagt, für ihn alles verändert hat: Er zieht nach Paris, beginnt zu lesen, Bourdieu, Foucault, Derrida, beginnt zu schreiben, trainiert sich seinen picardischen Akzent ab, ändert seinen Vornamen, ändert seinen Nachnamen, nimmt zehn Kilo ab, lässt seine Zähne machen und seinen Kiefer operieren. Endlich kann er die Lüge leben. "Didier hat mir mit seinem Buch erlaubt, mich selbst zu erkennen", sagt Louis. In Eribons Buch lernt Louis, wer er ist; und erst, indem er jemand anderes wird, findet er zu sich selbst.

Wenn es nun in "Im Herzen der Gewalt" erneut darum geht, wie man der Vergangenheit entkommt, dann geht es also nur auf den ersten Blick darum, wie man mit einem Trauma fertig wird, welches das eigene Selbstverständnis so heftig erschüttert, dass man es nicht einfach durch die Beteuerung der eigenen moralischen Grundsätze in den Griff bekommt. Es geht eher darum, ob die eigene Geschichte einen Angriff aushält, der auf der Ebene der Physik stattfindet, eine körperliche Attacke, die suggeriert, sie sei wirklicher als jede Fiktion. Doch es geht nur darum, welche Wahrheit stärker ist: Wie man dem kleinen Eddy damals beteuerte, dass es keinen Weg gäbe, seinem Milieu zu entkommen, scheint die Verletzung dieser Nacht zu groß zu sein, um sie jemals hinter sich zu lassen. Dass aber auch die Körper geprägt sind, von Politik und Theorie, das weiß Louis nicht nur aus seiner Bourdieu-Lektüre; es wurde ihm schon seit seiner Kindheit eingebleut. Doch liegt auch die Rettung in der Sprache: "Theorie ist eine Möglichkeit, unsere Körper zu verändern", sagt Louis.

Natürlich bleibt das eine paradoxe Erfahrung: Leute wie Louis oder Eribon sind der Beweis dafür, dass es möglich ist, einer Welt zu entkommen, in der das Regime falscher Normen herrscht. Und weil sie diese Möglichkeit ständig bezeugen müssen, können sie ihrer Vergangenheit nie entkommen. Trotzdem erweitert jedes Zeugnis solcher Fluchten die Möglichkeit, so wie es Eribons Buch für Louis getan hat. Dasselbe ist auch "Im Herzen der Gewalt": ein Sieg der Literatur über die Realität - die auch nichts anderes ist als eine Geschichte, deren Fiktionalität man vergessen hat.

HARALD STAUN

Édouard Louis: "Im Herzen der Gewalt". Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 224 Seiten, 20 Euro. Der Autor tritt am Dienstag, dem 10. Oktober, um 21 Uhr bei der Eröffnung des Bookfest-Bistro im "Margarete - NM57" in Frankfurt auf; am 13. Oktober in Stuttgart und am 16. Oktober mit Didier Eribon im LCB in Berlin.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Rezensent Harald Staun erkennt den Sieg der Literatur über die Realität in Edouard Louis' zweitem Buch. Feierte der Autor in seinem ersten Buch die Abkehr von seinen Ursprüngen, die ihn sich selbst verleugnen ließen, muss die eigene Geschichte diesmal einen physischen wie psychischen Angriff überstehen, erklärt Staun. Der Ekel und der Schmerz verschlagen dem Erzähler zunächst die Sprache und lassen andere die Geschichte erzählen, Polizei, Ärzte, Familie, Freunde. Wie der Erzähler die Macht über seine Geschichte zurückerlangt, um ein anderer zu werden, darum geht es laut Rezensent in dem Buch.

© Perlentaucher Medien GmbH
Die Virtuosität mit der Louis die Deutungen gegeneinanderstellt, ist eindrucksvoll; die Selbstironie [...] hat einen sardonischen Vergnügungswert. Elke Schmitter Literatur Spiegel 20170826