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Wulf Kirsten ist einer der sprachmächtigsten Dichter unserer Zeit. Beinahe verlorene Worte, in seinem Werk haben sie ihren Platz. Sinnlichkeit und Klarheit, in seinen Gedichten finden sie ihren Ausdruck. Leise und doch so unmittelbar und unausweichlich entfalten sich Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Dichterporträts. Kirsten erweist sich in jedem Text als aufmerksamer Beobachter, eloquenter Formulierer und kluger Analyst. Seine Betrachtungen sind politisch, literarisch und historisch verortet, seine Worte von feinem Witz getragen.

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Produktbeschreibung
Wulf Kirsten ist einer der sprachmächtigsten Dichter unserer Zeit. Beinahe verlorene Worte, in seinem Werk haben sie ihren Platz. Sinnlichkeit und Klarheit, in seinen Gedichten finden sie ihren Ausdruck. Leise und doch so unmittelbar und unausweichlich entfalten sich Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Dichterporträts. Kirsten erweist sich in jedem Text als aufmerksamer Beobachter, eloquenter Formulierer und kluger Analyst. Seine Betrachtungen sind politisch, literarisch und historisch verortet, seine Worte von feinem Witz getragen.
Autorenporträt
Wulf Kirsten wurde 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren und starb 2022 in Weimar. Nach seinem Pädagogikstudium arbeitete er kurzzeitig als Lehrer, war dann von 1965 bis 1987 Lektor des Aufbau Verlags. Seitdem lebte er als freier Schriftsteller in Weimar. Er war Stadtschreiber in Salzburg, Dresden und Bergen-Enkheim. Für sein literarisches Schaffen wurden ihm zudem u.a. der Peter-Huchel-Preis und der Joseph-Breitbach-Preis verliehen, zuletzt 2015 der Thüringer Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2012

Das Morgenlicht trübetimpelt, die Kanzlerin guckt bedript aus der Wäsche

Bäuerische Selbstbehauptung, lutherische Derbheit und feine Empfindsamkeit: Wulf Kirsten dichtet gebrochene Naturlyrik und kauzige Kommentare zur Krise.

Ja, die Mufflons oberhalb von Röttelmisch im Reinstädter Grund gibt es tatsächlich noch, "über hundert tiere, / die fressen was weg, auf dem schroffen berg- / rücken". Wer außer Wulf Kirsten hat eine Ahnung, wo das liegt? Die Schleichwege und Trampelpfade im Unterholz und Dickicht, die schlammigen Ackerfurchen, die rauhen Kalkplateaus und Streuobstwiesen Thüringens jenseits der A4, die Kindheitslandschaft im angrenzenden Sachsen, das besuchs- und stipendienweise durchstreifte Oberhessen - das sind Lieblingsgegenden eines Dichters, von dem man schon glaubte, dass er mit dem großen Fazit der 2004 zu seinem Siebzigsten bei Ammann erschienenen "erdlebenbilder" Abschied von der Poesie genommen hätte - bei weitem nicht.

Vor zwei Jahren war die epochale Anthologie "Beständig ist das leicht Verletzliche" unter seiner Ägide erschienen, Gedichte zwischen Nietzsche und Celan, die außer ihm kaum einer mehr kennt, mit unermüdlichem Spürsinn recherchierte Texte zu jung verstorbener, zu früh vergessener, zu wenig beachteter Autoren, die eine Literaturgeschichte des Randständigen erzählen, eine veritable, aller chauvinistischen Unart abholde Sammlung deutschsprachiger Dichter-Landschaften. Nun folgt die Nachlese mit dem, was sich Kirsten während der Arbeit daran versagte: wieder nach draußen ins Offene zu streifen, der eigenen Anschauung, dem eigenen Blick zu vertrauen und die Natur oder das, was davon übrigblieb, in dynamisch fließenden, elliptisch gestrafften, zu Textblöcken gebündelten Versen einzufangen.

Trotzig-rotzig fluchend in Wortkaskaden, die pfeifen auf den guten Ton und den Vorwurf des Hinterwäldlers umkehren in bäuerischen Selbstbehauptungswillen, mit dem Pfund einer bilderstrotzenden archaischen Sprache wuchernd, die auf heutige Schüler wie ein fremdes Idiom wirken muss ("kuhfatzler, / die zwei milchkühe vorspannten"; "aus den bauerngärten gauderten / aufgeplusterte rotlappige truthähne"), bewahrt er den historischen Untergrund deutscher Poesie. Mit ihm kommt die Derbheit und Entrüstung Luthers noch einmal zur Welt, verbindet sich feindosiert mit Hölderlins Empfindsamkeit, Brechts Zeitkritik und der kühnen Metaphorik der Avantgarden. Seine lakonischen Partizipialsätze vergegenständlichen virtuos wie Pinselzüge die Schrift, als gälte es, sie aufs Tableau zu übertragen.

Er hat sich immer dagegen verwahrt, als Naturdichter zu gelten. Landschaft sei sein Thema, in zahlreichen Essays hat er diesen Impuls an einer von der Droste zu Bobrowski führenden Traditionslinie dingfest gemacht. Gewiss, Landschaft als Verschriftlichung einer Gegend analog zur Tradition der Landschaftsmalerei ist bei ihm stets mitzudenken. Hier aber sind es eher die Einzelheiten, flüchtige Details, vorübergehende Wahrnehmungen, die sich mit anderem - Zitaten, Reflexionen, Anspielungen - verknüpfen. Die Statik seiner frühen Gedichte ist längst einer Dynamik gewichen, die auch den medial gebrochenen Charakter seiner Perspektive mit einbezieht. Anschauung ist nicht unvermittelt denkbar, sie ist, wie das Eingangsgedicht festhält, Reflex hinter den Fensterscheiben des ICE. Doch das Dahinter ist unerreichbar, weil es längst vergangen ist. Bahnreisende auf der Strecke Berlin-München kennen die Gegend hinter Naumburg, aber was holt Kirsten da nicht alles heraus - die Villa Schultze-Naumburgs über den Saaleklippen, Bad Kösen, "wo Friedrich Nietzsche / ein bier trank oder war es eins über / den durst", haufenweise "trümmerbrocken", "wintergrün" und "mistelbälle" bis zu jenen sonderbaren Residuen der Vergangenheit, in denen allein sich der Autor wiedererkennt: "nur die kirchen / tanzen noch aus der reihe / mit ihren altmodischen türmen, / ein jeder anders gereckt, / teils gezwirbelt, teils gezwiebelt, / als wollten sie die seligkeit preisen / hocherhobnen fingers nach eigner fasson".

Natürlich mag sich dieser Zeigefinger seine kauzigen Kommentare zur Krise nicht versagen. Es ist das gute Recht der Dichter, sich über die desolate Abhängigkeit vom Finanzkapital zu beklagen: Auch sie haben hier, wie Ezra Pound lehrt, ihr Wörtchen mitzureden. Einer Lyrik, die mit der eigenen Anschauung und Empfindlichkeit, einen konkreten Weltausschnitt vor Augen, operiert, muss die Abstraktion der Kapitalmärkte als entsetzliche Vergewaltigung menschlichen Eigensinns erscheinen. Genau deshalb möchte man dieses Unbehagen nicht in der Nähe der Stammtische wissen, mit denen es bisweilen zu fraternisieren scheint. Origineller geht es zu, wenn der passionierte Wörterbuchleser plötzlich an seiner Sprache zweifelt und zwei Ausdrücke nachschlagen muss, um festzustellen, dass es sie tatsächlich gibt, das "trübetimpelige" Morgenlicht und die "bedripte" Art, in der die Kanzlerin aus der Wäsche guckt.

Um sich und seine poetische Widerständigkeit in der Gegenwart zu verorten, greift Kirsten auf seine bewährte Kunst des Porträtgedichts zurück, das dem verdrängten Vergangenen eine Stimme verleiht - der von der geistigen Öde Bambergs angewiderte E. T. A. Hoffmann, Heine, der aus seiner Pariser Matratzengruft die Abscheulichkeit der Besserwisser verflucht, Hölderlin, dessen Tübinger Turm die Ratten besuchen. Das Gedicht "schattenfabel" münzt ein Herderwort autobiographisch um: eine bitterere Anklage gegen eine Geschichte, die, "geschehen zu meiner zeit", ganze Lebensläufe im Namen von Staat und Ideologien enteignet. Dazu kommen Reminiszenzen an Freunde, die ein Stück Weg mit dem Eigenbrötler teilten - Spaziergänge in der Rhön mit Harald Gerlach, mit Vilem Zavada auf dem Balkan, mit Ludvik Kundera in Böhmen, wo die Frage auftaucht: "wer hat dich, sommer, so schnell / umgeblättert?"

Als Verbündete für sein Beharrungsvermögen braucht Kirsten nicht nur die seltenen Menschen an seiner Seite, sondern auch eine trotzige Tier- und Pflanzenwelt, deren Reichtum konstant vom Verschwinden bedroht ist. Den Erscheinungen gilt es ebenso akribisch nachzuspüren wie ihren Benennungen; Sprache wie Natur sind gleichermaßen ans Herz gewachsen: "an wegrainen mit vorliebe, / als stündest du dir selbst im wege: / Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn, / Berufkraut zudem mitunter auch noch / gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt / noch einer imstande, dir namen zu geben: / Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach / Gemeines Herzgespann". Gleich zwei Gedichte sind den vor seiner Haustür brütenden Turmfalken gewidmet - Orakel einer Dichtung, die sich wider die Zeit behauptet: "vom campanile / kirrt die falkenbrut" - und man hofft, dass "ihr lautloses verschwinden" nicht das letzte Wort behält. Tut es auch nicht. Das gehört den Mufflons bei Röttelmisch und einer vermeintlich gottverlassenen Natur, in der es wider Erwarten noch einmal funkt - "und er zeigt / armlängs auf die klatschmohnbestände, / die im getreideschlag sich eingenistet / und hartnäckig halten, und hier zuseiten / des feldrands gedeiht noch der fahnenhafer, / alles so zufälle, an die nicht mal gott / glaubt, der doch sonst glaubt, / was das zeug hält".

JAN VOLKER RÖHNERT

Wulf Kirsten: "fliehende ansicht". Gedichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 80 S., geb., 16,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nico Bleutge mag das Konkrete und Handwerkliche an Kirstens Gedichte: "Wörter wie 'straubicht', 'schollern' oder 'geglinster'", kommen darin vor, staunt er. Sie dienen zur Beschreibung der Landschaft bei Meißen, aus der Kirsten stammt. Sehr schön zeigt Bleutge, wie Kirsten etwa aus der Kombination von Fachsprachen, etwa der Holzbearbeitung, mit Alltagswörtern sinnliche Funken für die eigene Weltwahrnehmung schlägt. Viel weniger schätzt Bleutge es allerdings, wenn Kirsten zu abgegriffenen Reimen greift, um politische Ansichten zum Besten zu geben. Zum Glück ist der Band für ihn aber nicht von solchen Botschaften dominiert.

© Perlentaucher Medien GmbH
Das Morgenlicht trübetimpelt, die Kanzlerin guckt bedript aus der Wäsche

Bäuerische Selbstbehauptung, lutherische Derbheit und feine Empfindsamkeit: Wulf Kirsten dichtet gebrochene Naturlyrik und kauzige Kommentare zur Krise.

Ja, die Mufflons oberhalb von Röttelmisch im Reinstädter Grund gibt es tatsächlich noch, "über hundert tiere, / die fressen was weg, auf dem schroffen berg- / rücken". Wer außer Wulf Kirsten hat eine Ahnung, wo das liegt? Die Schleichwege und Trampelpfade im Unterholz und Dickicht, die schlammigen Ackerfurchen, die rauhen Kalkplateaus und Streuobstwiesen Thüringens jenseits der A4, die Kindheitslandschaft im angrenzenden Sachsen, das besuchs- und stipendienweise durchstreifte Oberhessen - das sind Lieblingsgegenden eines Dichters, von dem man schon glaubte, dass er mit dem großen Fazit der 2004 zu seinem Siebzigsten bei Ammann erschienenen "erdlebenbilder" Abschied von der Poesie genommen hätte - bei weitem nicht.

Vor zwei Jahren war die epochale Anthologie "Beständig ist das leicht Verletzliche" unter seiner Ägide erschienen, Gedichte zwischen Nietzsche und Celan, die außer ihm kaum einer mehr kennt, mit unermüdlichem Spürsinn recherchierte Texte zu jung verstorbener, zu früh vergessener, zu wenig beachteter Autoren, die eine Literaturgeschichte des Randständigen erzählen, eine veritable, aller chauvinistischen Unart abholde Sammlung deutschsprachiger Dichter-Landschaften. Nun folgt die Nachlese mit dem, was sich Kirsten während der Arbeit daran versagte: wieder nach draußen ins Offene zu streifen, der eigenen Anschauung, dem eigenen Blick zu vertrauen und die Natur oder das, was davon übrigblieb, in dynamisch fließenden, elliptisch gestrafften, zu Textblöcken gebündelten Versen einzufangen.

Trotzig-rotzig fluchend in Wortkaskaden, die pfeifen auf den guten Ton und den Vorwurf des Hinterwäldlers umkehren in bäuerischen Selbstbehauptungswillen, mit dem Pfund einer bilderstrotzenden archaischen Sprache wuchernd, die auf heutige Schüler wie ein fremdes Idiom wirken muss ("kuhfatzler, / die zwei milchkühe vorspannten"; "aus den bauerngärten gauderten / aufgeplusterte rotlappige truthähne"), bewahrt er den historischen Untergrund deutscher Poesie. Mit ihm kommt die Derbheit und Entrüstung Luthers noch einmal zur Welt, verbindet sich feindosiert mit Hölderlins Empfindsamkeit, Brechts Zeitkritik und der kühnen Metaphorik der Avantgarden. Seine lakonischen Partizipialsätze vergegenständlichen virtuos wie Pinselzüge die Schrift, als gälte es, sie aufs Tableau zu übertragen.

Er hat sich immer dagegen verwahrt, als Naturdichter zu gelten. Landschaft sei sein Thema, in zahlreichen Essays hat er diesen Impuls an einer von der Droste zu Bobrowski führenden Traditionslinie dingfest gemacht. Gewiss, Landschaft als Verschriftlichung einer Gegend analog zur Tradition der Landschaftsmalerei ist bei ihm stets mitzudenken. Hier aber sind es eher die Einzelheiten, flüchtige Details, vorübergehende Wahrnehmungen, die sich mit anderem - Zitaten, Reflexionen, Anspielungen - verknüpfen. Die Statik seiner frühen Gedichte ist längst einer Dynamik gewichen, die auch den medial gebrochenen Charakter seiner Perspektive mit einbezieht. Anschauung ist nicht unvermittelt denkbar, sie ist, wie das Eingangsgedicht festhält, Reflex hinter den Fensterscheiben des ICE. Doch das Dahinter ist unerreichbar, weil es längst vergangen ist. Bahnreisende auf der Strecke Berlin-München kennen die Gegend hinter Naumburg, aber was holt Kirsten da nicht alles heraus - die Villa Schultze-Naumburgs über den Saaleklippen, Bad Kösen, "wo Friedrich Nietzsche / ein bier trank oder war es eins über / den durst", haufenweise "trümmerbrocken", "wintergrün" und "mistelbälle" bis zu jenen sonderbaren Residuen der Vergangenheit, in denen allein sich der Autor wiedererkennt: "nur die kirchen / tanzen noch aus der reihe / mit ihren altmodischen türmen, / ein jeder anders gereckt, / teils gezwirbelt, teils gezwiebelt, / als wollten sie die seligkeit preisen / hocherhobnen fingers nach eigner fasson".

Natürlich mag sich dieser Zeigefinger seine kauzigen Kommentare zur Krise nicht versagen. Es ist das gute Recht der Dichter, sich über die desolate Abhängigkeit vom Finanzkapital zu beklagen: Auch sie haben hier, wie Ezra Pound lehrt, ihr Wörtchen mitzureden. Einer Lyrik, die mit der eigenen Anschauung und Empfindlichkeit, einen konkreten Weltausschnitt vor Augen, operiert, muss die Abstraktion der Kapitalmärkte als entsetzliche Vergewaltigung menschlichen Eigensinns erscheinen. Genau deshalb möchte man dieses Unbehagen nicht in der Nähe der Stammtische wissen, mit denen es bisweilen zu fraternisieren scheint. Origineller geht es zu, wenn der passionierte Wörterbuchleser plötzlich an seiner Sprache zweifelt und zwei Ausdrücke nachschlagen muss, um festzustellen, dass es sie tatsächlich gibt, das "trübetimpelige" Morgenlicht und die "bedripte" Art, in der die Kanzlerin aus der Wäsche guckt.

Um sich und seine poetische Widerständigkeit in der Gegenwart zu verorten, greift Kirsten auf seine bewährte Kunst des Porträtgedichts zurück, das dem verdrängten Vergangenen eine Stimme verleiht - der von der geistigen Öde Bambergs angewiderte E. T. A. Hoffmann, Heine, der aus seiner Pariser Matratzengruft die Abscheulichkeit der Besserwisser verflucht, Hölderlin, dessen Tübinger Turm die Ratten besuchen. Das Gedicht "schattenfabel" münzt ein Herderwort autobiographisch um: eine bitterere Anklage gegen eine Geschichte, die, "geschehen zu meiner zeit", ganze Lebensläufe im Namen von Staat und Ideologien enteignet. Dazu kommen Reminiszenzen an Freunde, die ein Stück Weg mit dem Eigenbrötler teilten - Spaziergänge in der Rhön mit Harald Gerlach, mit Vilem Zavada auf dem Balkan, mit Ludvik Kundera in Böhmen, wo die Frage auftaucht: "wer hat dich, sommer, so schnell / umgeblättert?"

Als Verbündete für sein Beharrungsvermögen braucht Kirsten nicht nur die seltenen Menschen an seiner Seite, sondern auch eine trotzige Tier- und Pflanzenwelt, deren Reichtum konstant vom Verschwinden bedroht ist. Den Erscheinungen gilt es ebenso akribisch nachzuspüren wie ihren Benennungen; Sprache wie Natur sind gleichermaßen ans Herz gewachsen: "an wegrainen mit vorliebe, / als stündest du dir selbst im wege: / Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn, / Berufkraut zudem mitunter auch noch / gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt / noch einer imstande, dir namen zu geben: / Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach / Gemeines Herzgespann". Gleich zwei Gedichte sind den vor seiner Haustür brütenden Turmfalken gewidmet - Orakel einer Dichtung, die sich wider die Zeit behauptet: "vom campanile / kirrt die falkenbrut" - und man hofft, dass "ihr lautloses verschwinden" nicht das letzte Wort behält. Tut es auch nicht. Das gehört den Mufflons bei Röttelmisch und einer vermeintlich gottverlassenen Natur, in der es wider Erwarten noch einmal funkt - "und er zeigt / armlängs auf die klatschmohnbestände, / die im getreideschlag sich eingenistet / und hartnäckig halten, und hier zuseiten / des feldrands gedeiht noch der fahnenhafer, / alles so zufälle, an die nicht mal gott / glaubt, der doch sonst glaubt, / was das zeug hält".

JAN VOLKER RÖHNERT

Wulf Kirsten: "fliehende ansicht". Gedichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 80 S., geb., 16,99 [Euro].

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