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Dies kein Buch für Stubenhocker, Agoraphobe oder Reisemuffel. Und dennoch geht es um eine besondere Art von Stubenhockern: um Zimmerreisende. Das sind Menschen, die einen oder mehrere Tage lang ihr Zimmer regelrecht bereisen, sowie ihre Verwandten, die es immerhin bis hinaus auf die Straße bringen. Unendliche Weiten der Nähe tun sich auf, die mit einem Blick erforscht werden, als hätte man die vertrauten Räume nie zuvor gesehen. Das Buch ist ein reich illustrierter historischer Reiseführer durch einen Topos der Literatur mit Gefährten wie de Maistre, Kierkegaard, Baudelaire, Robbe-Grillet,…mehr

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Produktbeschreibung
Dies kein Buch für Stubenhocker, Agoraphobe oder Reisemuffel. Und dennoch geht es um eine besondere Art von Stubenhockern: um Zimmerreisende. Das sind Menschen, die einen oder mehrere Tage lang ihr Zimmer regelrecht bereisen, sowie ihre Verwandten, die es immerhin bis hinaus auf die Straße bringen. Unendliche Weiten der Nähe tun sich auf, die mit einem Blick erforscht werden, als hätte man die vertrauten Räume nie zuvor gesehen. Das Buch ist ein reich illustrierter historischer Reiseführer durch einen Topos der Literatur mit Gefährten wie de Maistre, Kierkegaard, Baudelaire, Robbe-Grillet, Handke, Cortázar und gibt Einblick in die über zweihundertjährige Geschichte einer Fortbewegungsart, die, ohne vom Fleck zu kommen, vieles in Bewegung setzt.
Autorenporträt
Bernd Stiegler,geboren 1964, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, München, Paris, Berlin, Freiburg und Mannheim. Von 1999 bis 2007 arbeitete er als Programmleiter Wissenschaft im Suhrkamp Verlag. Seit Herbst 2007 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur
mit Schwerpunkt Literatur des 20.¿Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Zuletzt sind von ihm im S.Fischer Verlag erschienen 'Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum' (2010) sowie 'Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina' (2012).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2010

Schräge Vögel in Volieren
Bernd Stiegler über das Reisen im eigenen Zimmer
Reisen kann eine ekelige Sache sein. Wer beim Kampf um die Armlehne im engstmöglichen Flugzeugsitz noch keine Viruserkrankung über die Lüftung gefangen hat, kann gleich am Flughafen in drängelnden Warteschlangen seine Laune aufbessern, wenn ihm unangekündigt astronomische Visagebühren für ein Land abgefordert werden, das dann mit unerträglicher Hitze, betrügerischen Taxifahrern, braunen Rändern im Klo und einem unverkrampften Verhältnis zu Lärm, Gerüchen und Körperkontakt aufwartet. Wem diese Vorstellung bereits den Angstschweiß auf die Stirn setzt, braucht sich ab sofort seiner Feigheit nicht mehr zu schämen. Denn tatsächlich steht jeder Reisephobiker in einer langen Reihe respektabler Exzentriker, die dem gemeinen Touristen eine bedeutende Erkenntnis voraus haben: dass das eigene Zimmer eine „paradiesische Gegend“ ist, die „alle Güter und Schätze in sich birgt“.
Diese Behauptung jedenfalls stellte Xavier de Maistre 1794 in seinem Buch „Die Reise um mein Zimmer“ auf, das zum Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Expeditionen in die Nähe werden sollte. De Maistre hatte 42 Tagen Hausarrest für ein verbotenes Duell abzusitzen und nützte diese Zeit, um seinen Wohnraum zu erkunden wie ein fremdes Land. In der ironischen Manier eines durchaus weitgereisten und gebildeten Gesellschaftsmenschens nahm er Möbel, Bilder, Bücher und Diener zum Anlass, abzuschweifen und ein gewisses komisches Staunen beim Leser zu provozieren: wie das Gewöhnliche mit der Betrachtung wachsen kann oder die Welt sich auf Zimmergröße schrumpfen lässt.
Über zweihundert Jahre später nimmt Bernd Stiegler diese Befremdung des Bekannten wiederum zum Anlass für eine Expedition aus seinem eigenen Zimmer in die Vergangenheit. In 21 Etappen lässt er Stubenreisen Revue passieren, die seither mit und ohne Bezug auf de Maistre unternommen wurden oder von Stiegler als solche gedeutet werden. Zunächst findet der einstige Programmleiter Wissenschaft des Suhrkamp-Verlages und heutige Literaturprofessor in Konstanz in der literarischen Tradition eine Parade schräger Vögel und Dandys mit Originalitätsmeise, die sich dem Einschluss ins Privatissimum verschrieben haben.
Etwa Joris-Karl Huysmans Romanheld Floressas Des Esseintes, der vor seinem Welt- und Menschenekel in eine luxuriöse Klausnerei flieht, wo er allein mit sich und seinem erlesenen Geschmack krank und unglücklich wird. Oder Alphonse Karr, der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinem Affen und einem schwarzen Diener in einem kleinen Pariser Häuschen wie ein festsitzender Wüstennomade lebte und 700 Seiten über seinen Garten schrieb. Schließlich Raymond Roussel, der sich einen exquisit möblierten Wohnlaster bauen ließ, mit dem er von Paris nach Rom reisen konnte, ohne Kenntnis von der lächerlichen Welt zu nehmen, die er im Verhältnis zu seinen Gedankenreisen äußerst geringschätzte.
Stiegler, der sich im Wesentlichen auf den französischen und deutschen Kulturraum beschränkt, findet bei seiner aufwendigen Quellenrecherche Listenromane mit bürgerlichem Interieur, Reisen in Schubladen und Hosentaschen, aber er stößt natürlich auch auf Samuel Becketts eingeschlossene Verzweiflungssprecher oder den in Anonymität vor sich hinphantasierenden Maler Gustave Moreau. Bemüht, möglichst unterschiedliche Aspekte des Themas vorzustellen, verzweigt sich Stiegler von der Uridee der statischen Reise in der christlichen Klosterzelle in immer fernere Bereiche des angeblich monadischen Seins, um schließlich in Betrachtungen vorzustoßen, wo seine Metapher von der „Zimmerreise“ beginnt, beliebig zu werden.
Bei Peter Handkes Erkundung des Pariser Hochhausviertels La Defense etwa sind die kapitalen Perspektivunterschiede zu einer Zimmerreise so viel offensichtlicher als die Gemeinsamkeiten, dass Stieglers Bemühungen um plausible Argumente für einen Zusammenhang abstrus zu werden drohen. Andererseits widmet er der modernen Zimmerreise mittels Fernsehen, Kino und Internet überhaupt keine substantielle Betrachtung, obwohl gerade hier eine interessante Wendung der körperlosen Welterkundung von aktiven zu passiven, von idiosynkratischen zu affirmativen Verhaltensweisen zu beschreiben wäre.
Und aus diesen beiden Aspekten wird die grundsätzliche Schwierigkeit dieser Chronologie der Reisen vom Stuhl aus schon sichtbar. Stieglers Begeisterung hat ein Thema, aber keine These. Die Beispielsammlung aus zwei Jahrhunderten ist analytisch so lose verknüpft, dass oft kaum nachvollziehbar ist, was eine Zimmerreise eigentlich als solche qualifiziert. Warum Rolf Dieter Brinkmanns Text „Rom, Blicke“ eine Zimmerreise sein soll, Kafkas „Verwandlung“ aber nicht, warum Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ ausführlich vorgestellt wird, berühmte Gefängnisromane wie „Der Graf von Monte Christo“ aber mit keinem Wort erwähnt sind, das erschließt sich unter anderem deswegen nicht, weil Stiegler kaum Kriterien für die Auswahl gibt, die über das Offensichtlichste hinausweisen.
Und selbst das Offensichtliche setzt er immer wieder außer Kraft, etwa wenn er die Stadt zum „Zimmer“ des Flaneurs umdeutet, und damit den Rahmen, der seinem Thema Form gab, so sprengt, das im nächsten Schritt jede Form des „fremden Blicks“ in seine Darstellung passt. Eine Metapher, die auf alles anwendbar wird – in diesem Fall auf das Gebet ebenso wie auf die Science Fiction – wird mit jeder Dehnung kraftloser.
Gleiches gilt für den Typus des Zimmerreisenden. Was Künstler und Exzentriker dazu bewegt, der Außenwelt zu entsagen und ihr Exil allein mit assoziativen Ausflügen zu verlassen, wird grundsätzlich so wenig thematisiert wie der Zusammenhang von Rückzug und Neurose. Und so wird Stieglers Reise durch die Zimmerperspektive eine zeitweise durchaus strapaziöse Unternehmung mit zahllosen gedanklichen Aus- und Umstiegen. Um vom Anfang zum Ende dieser fleißige Addition skurriler Quellen, Personen und Ansichten zu gelangen, ist ein eigener Geduldsfaden also erster Gepäckbedarf.
Da für alle Freunde des Sonderlings der Ertrag an Hinweisen in „Reisender Stillstand“ aber durchaus reich ist, kann der Koffer an neuen Büchern am Ende von Stieglers bunter Irrfahrt trotzdem schwer sein. Und der eigene Lesesessel gilt ja durchaus auch als „paradiesische Gegend“ für eine gedankliche Schatzreise.
TILL BRIEGLEB
BERND STIEGLER: Reisender Stillstand – Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 290 Seiten, 22,95 Euro.
De Maistre nutzte 42 Tage
Hausarrest, um seinen Wohnraum
zu erkunden wie ein fremdes Land
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die Reise in die nächste Nähe vermag uns sogar an den Tod zu gewöhnen, meint Angela Gutzeit und findet Bernd Stieglers Kulturgeschichte der Zimmerreisen einfach wunderbar. Und so praktisch. Wie Stiegler unserer Rezensentin in 21 Etappen chronologisch zu vermitteln vermag, hat dieses Abenteuer bis heute nichts von seiner Faszination verloren. Waren es früher Flaneure oder ein sich an Dioramen erfreuendes Bürgertum, erläutert der Autor der Rezensentin heutige Methoden der "Zimmerreise" anhand künstlerischer wie technischer (das Internet!) Innovationen. Nur die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Einkehr (Moderne, Krieg), die hätte Gutzeit mitunter gern etwas ausführlicher erklärt bekommen.

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