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Sarmatien ist eine der verlorenen Provinzen Europas, die einmal seine Mitte war. Zwischen Litauen, Weißrussland, der Ukraine und Polen gelegen, sah Sarmatien Joseph Roth zur Feder greifen, Czeslaw Milosz über die Jahrmärkte wandeln und die Singers und Brodskys ihre Koffer packen - wenn ihnen die Zeit dazu geblieben war. Es war das Traumland Johannes Bobrowskis, das wilde Reich, in dem alle Völker und Religionen Platz fänden, hätte nicht die Geschichte alles eins ums andere Mal umgepflügt.
Martin Pollack hat 25 Schriftsteller eingeladen, von Samartien zu erzählen, es zu erinnern und die
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Produktbeschreibung
Sarmatien ist eine der verlorenen Provinzen Europas, die einmal seine Mitte war. Zwischen Litauen, Weißrussland, der Ukraine und Polen gelegen, sah Sarmatien Joseph Roth zur Feder greifen, Czeslaw Milosz über die Jahrmärkte wandeln und die Singers und Brodskys ihre Koffer packen - wenn ihnen die Zeit dazu geblieben war. Es war das Traumland Johannes Bobrowskis, das wilde Reich, in dem alle Völker und Religionen Platz fänden, hätte nicht die Geschichte alles eins ums andere Mal umgepflügt.

Martin Pollack hat 25 Schriftsteller eingeladen, von Samartien zu erzählen, es zu erinnern und die Verwerfungen der Landschaft zu erkunden. Entstanden ist ein Kompendium zu einem verlorenen Land, dessen Wiederauffinden Europa einen anderen, offeneren Namen geben könnte.
Autorenporträt
Martin Pollack, geb. 1944 in Bad Hall, Oberösterreich, studierte in Wien und Warschau, arbeitet als Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Polen und schrieb über Galizien. 2007 erhielt er für seine Übersetzungen den Karl-Dedecius-Preis der Robert Bosch Stiftung und wurde mit dem 'Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln' ausgezeichnet. Zudem erhielt er 2007 den mitteleuropäischen Literaturpreis 'Angelus', 2010 den Hauptpreis des Georg Dehio-Buchpreises. Für sein 'einprägsames und richtungweisendes Oeuvre' wurde dem österreichischen Publizisten der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für das Jahr 2011 zuerkannt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2006

Das ist wie Frakturlesen
Zivilisation ohne Imperium: Zwei Bände über Sarmatien

Das Rechtschreibprogramm des Computers ist ein untrügliches Indiz für Randständigkeiten. "Sarmatien" existiert darin nicht. Kaum ein Atlas verzeichnet die Landschaft - die sarmatische Ebene, jenes flache, schier endlose Land zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Weichsel und Wolga, das der Dnjepr noch einmal in eine östliche und eine westliche Hälfte zerschneidet; ein Kontinent, dessen Name in den Stürmen des vergangenen Jahrhunderts untergegangen ist, wie so viele andere: Galizien, Bessarabien, Transsilvanien. Mit in die Tiefe gerissen wurden die Namen von Völkern und Sprachen, Städten und Zivilisationen. An ihre Stelle traten Blöcke, Ideologien, Grenzen.

Das vermeintliche Ende der Geschichte führte zur Renaissance des Raumes als poetisches, als kulturelles und schließlich auch als politisches Konzept. Die versunkenen Schiffe wurden gehoben, die kryptischen Zeichen auf den geborgenen Schätzen erzählen plötzlich eine ganz andere Geschichte als jene, die man, in Ost und West, aus mageren Schulbuchkapiteln über die jeweils andere Welt, den anderen Teil des Kontinents, kannte.

Martin Pollack, der Übersetzer und langjährige "Spiegel"-Korrespondent in Polen, sucht in zwei von ihm herausgegebenen Bänden den Raum zwischen Weichsel und Dnjepr neu zu erkunden, ihn gewissermaßen zu lesen. Doch als glaubte der Herausgeber der Wiedergeburt des geographischen Raumes noch nicht ganz, versieht er den Band "Sarmatische Landschaften" mit einem Untertitel - "Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland". Die Texte sind Imaginationen des Raumes, meditative Zustandsbeschreibungen und Reiseberichte, historische Essays und zeitkritische Aufsätze, Erzählungen und Reportagen von fünfundzwanzig Autoren, die alle nach dem Krieg geboren wurden und unter den kollektiven Gedächtniserosionen des Kalten Krieges zu leiden hatten.

Es erstaunt, daß die Erosion im Westen größer zu sein schien als im Osten und daß der Osten für den Westen vielleicht auch deshalb allenfalls eine melancholische Erinnerungslandschaft blieb, aus der heraus instabile poetische Konstruktionen erwachsen. Der Osten ist die Wiederentdeckung einer alten Frakturschrift, eine Erweiterung des touristischen Terrains, eben doch eine Terra incognita. Für Marcel Baier waren Oder und Neiße keine Flüsse, sondern "bloße Wörter, die verbissene alte Männer traurig vor sich hin murmeln"; Kathrin Schmidt sucht Sarmatien in Johannes Bobrowskis Gedicht "Gestorbene Sprache"; Julia Franck schockiert mit einer Erzählung über Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten in Stettin nach Kriegsende; und Reinhard Jirgl müht sich an der Morphologie des Heimatbegriffs ab.

Für die Nachfahren der Völker Sarmatiens, die in dieser neuen Mitte Europas leben, ist die Neuorientierung im Raum etwas anderes - sie ist Zukunftsvision. Die polnisch-litauisch-ruthenische Adelsrepublik, die erste Rzeczpospolita, so interpretiert das der Ukrainer Jurko Prochasko, lebe im verborgenen von Vilnius bis Lemberg weiter, der trotzige Widerstand einer Macht, die von anderen Imperien verschluckt wurde. Im Widerstand ist man geübt. Fraglich bleibt für Prochasko, ob es ein Imperium ohne Zivilisation geben kann. Umgekehrt, so der junge Autor aus Iwano-Frankiwsk, könne eine Zivilisation sehr gut ohne Imperium auskommen. Es ist die Zugehörigkeit zu einer Kultur, deren geographische Ausdehnung von Paris bis Lemberg Juri Andruchowytsch untrüglich in Dierckes Atlaskarte zu Mitteleuropa ausmacht, die hier eingefordert wird.

Die Heterogenität des Bandes, der vielstimmige, zuweilen atonale Chor ergeben am Ende ein eher vages, unscharfes Bild eines Raumes, dessen Bewohner im Begriff sind, sich neu zu erfinden. Daß allein die Zigeuner, jene größte ethnische Minderheit im neuen Europa, nicht an der Obsession der Herkunft leiden, wie Andrzej Stasiuk in den "Sarmatischen Landschaften" schreibt, scheint in dem ebenfalls von Pollack herausgegebenen Band mit polnischen Reportagen aus den vergangenen zehn Jahren widerlegt. Hier macht sich ein Zigeuner, der es in seiner polnischen Heimat zu etwas gebracht hat, in die Transsilvanische Hochebene auf, um nach seinen Wurzeln zu graben. Lange dauerte es nicht, bis der Mann aus dem Stamme der Kelderasch, die einst als Kesselschmiede über Land zogen, zum guten Geist der armen und zum Erzfeind der reichen rumänischen Zigeuner avancierte.

Stets geht es um Zugehörigkeit, Identität, ein Aufräumen in den Kellern der Geschichte, um Narben, die noch lange nicht verheilt sind. Unter den Argusaugen des weißrussischen Geheimdienstes kämpft in Minsk eine Gruppe ebenso wissensdurstiger wie trotziger Schüler und Lehrer dafür, in ihrer Muttersprache zu lernen und zu lehren. Im moskautreuen Weißrußland und erst recht unter dem russophilen Diktator Lukaschenka stieg Weißrussisch in die traurige Liste der bedrohten Sprachen der Welt auf. In Polen wehren sich zwei kleine Gemeinden gegen das Erbe, Geburts- und Lebensort des späteren Literaturnobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer zu sein, eines Juden, der jiddisch schrieb und der ein Unbekannter, Ungeliebter in seiner Heimat blieb. Bei zwanzig Grad unter Null reist eine Amerikanerin ukrainischer Herkunft in ein ostpolnisches Dorf, wo vor einem halben Jahrhundert ihr Mann ums Leben kam und wo er bis heute ohne Grab unter der Erde liegt, weil einem Angehörigen der ukrainischen Aufständischen Armee, jener "Mordbrenner", denen die Kollaboration mit den Deutschen vorgeworfen wird, bis heute keine Ruhestätte genehmigt werden soll. Die Toten von Lódz mußten sich Anfang der neunziger Jahre um ihre letzte Reise nicht sorgen - ein Verdrängungskampf auf dem neuen Markt des bis dahin planökonomisch organisierten Bestattungswesens ließ Ärzte und Leichenbestatter zu "Hautjägern" werden, die das Fell unter sich aufteilten, noch ehe die Körper kalt geworden waren. In Rußlands fernem Osten spürt ein Warschauer Journalist die letzten jener polnischen Juden auf, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufbrachen, um im unwirtlichen Klima von Birobidschan, der autonomen jüdischen Republik in Stalins bizarrem Nationalitätenreich, einen kommunistischen und zionistischen Traum zu verwirklichen. Wer nicht Stalins Säuberungen zum Opfer fiel, nicht im Krieg umkam oder in den vergangenen Jahren nach Israel emigrierte, lebt heute mehr schlecht als recht in den Resten dessen, was einst die Kolchose "Lenins Testament" war. Und in Augustów, im Nordosten Polens, treffen die Opfer eines anderen Traums ein - in Metallsärgen oder Rollstühlen. Es sind jene, die dem Überlebenskampf als Schwarzarbeiter auf den Baustellen amerikanischer Großstädte nicht standhielten, die ohne Visum und Krankenversicherung auf den Straßen New Yorks und Chicagos landeten, wo sie, von Einsamkeit zerfressen, der Schmach des Versagens durch Selbstmord zu entfliehen suchten. "Verloren in Amerika" nannte Singer seinen autobiographischen Roman - heute, so eine Rückkehrerin, sei Amerika immer noch ein fremder Planet. Ein kleiner grauer Pole sei dort taub, stumm und blind.

SABINE BERKING

"Sarmatische Landschaften". Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. Hrsg. von Martin Pollack. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 361 S., geb., 28,- [Euro].

"Von Minsk nach Manhattan". Polnische Reportagen. Hrsg. von Martin Pollack. Aus dem Polnischen von Joanna Manc, Martin Pollack und Renate Schmidgall. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 270 S., geb., 21,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2006

Ein Großvater, fünf Staaten
Willkommene Nachrichten von der allmählichen Entdeckung Europas: Martin Pollacks Anthologie „Sarmatische Landschaften”
Wann es mit Sarmatien angefangen hat? Bei den antiken Geschichtsschreibern, die vom freiheitsliebenden Reitervolk der Sarmaten berichteten, das sich zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, Don und Weichsel umgetrieben und fremder Herrschaft stets entzogen hat. Wann es mit Sarmatien zu Ende gegangen ist? Eigentlich noch in der Antike. Aber das verschwundene Volk feierte seine Wiederauferstehung in Mythen und Legenden – so oft es mit diesen zu Ende ging, stets kehrten sie verwandelt wieder.
So deutete sich die polnisch-litauische Adelsrepublik, die zwischen 1569 und 1795 einen multinationalen Staat bildete, in dem viele Sprachen anerkannt waren und eine für Europa beispiellose religiöse Toleranz geübt wurde, als Erbe der Sarmaten. Nicht Osten und nicht Westen zu sein, sondern als wahre, unerkannte Mitte dazwischen zu liegen, zwischen dem despotischen Russland und dem nationalstaatlich sich organisierenden Westen, diesem „sarmatischen” Selbstbewusstsein war zunächst gar nichts Tragisches untermischt. Im Gegenteil, gegen den Osten gewendet bedeutete Sarmatien nichts anderes als Demokratie und gegen den Westen hin: nationale Vielfalt.
Die Aufklärer kehrten den sarmatischen Mythos jedoch ins Düstere: Sarmatien begann ihnen dort, wo Vernunft und bürgerliche Prinzipien noch nicht hingekommen waren. Der österreichische Kaiser Joseph II., der aufgeklärteste Geist und größte Reformator auf Habsburgs Thron, schrieb 1772 seinem Bruder von einer Inspektionsreise in den wilden Osten seines Reiches: „Ich bin hier unter Sarmaten. Es ist unglaublich, was hier noch alles getan werden muss: es ist ein Chaos, das nicht Seinesgleichen hat.” Doch war es damit nicht abgetan, und wann immer es in diesem Zwischeneuropa rumorte, einer politischen Erdbebenzone, in der sich die Nationen spät herausbildeten und noch heute die nationale Konkursmasse der Sowjetunion in Bewegung ist, fanden sich ethnische Gruppen, nationale Parteien, kulturelle Bewegungen, die die Sarmaten wiederentdeckten und für sich beanspruchten.
„Sarmatische Landschaften” heißt das spannende Lesebuch, in dem Martin Pollack „Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland” gesammelt hat. Der Untertitel deutet an, welche Staaten und Nationen am Sarmatismus Anteil hatten – und welche nicht. Aus historischen Gründen, die mit der polnisch-litauischen Adelsrepublik zusammenhängen, ist von den drei baltischen Staaten nur Litauen von sarmatischen Traditionen geprägt worden, nicht aber Estland und Lettland. Deutschland wiederum hat in Zwischeneuropa immer eine bedeutende Rolle gespielt, kulturell, wirtschaftlich, politisch, und natürlich auch als Großmacht, die seit den polnischen Teilungen verhängnisvoll in die Geschicke des Raumes mit seinen vielen Nationen und Nationalitäten eingriff.
23 Autoren, alle nach 1950 geboren, bietet Pollack auf, um zu klären, was es mit dem Sarmatien der Geschichte und dem Sarmatien der Seele heute auf sich hat. Litauen und Polen, Deutschland ohnedies, gehören der Europäischen Union an, die Ukraine und Belarus nicht. Dass damit neuerdings eine Grenze durch eine historische Landschaft schneidet, die einst ungeteilt war, ist für den Ukrainer Juri Andruchowytsch ein europäischer Skandal und eine „schwere Sünde”. In seiner furiosen Philippika klagt er ein größeres Europa ein, das ohne die Ukraine unvollständig wäre. Seine Wut mag man verstehen, seiner These, Europa habe mit der Europäischen Union noch längst nicht zu sich gefunden, bereitwillig beipflichten. Es ist aber merkwürdig, dass jene, die zu Recht verlangen, dass bestimmte Grenzen fallen, sie andernorts gerne selber ziehen möchten. Ganz ungeniert ist in etlichen Beiträgen des Buches von „asiatischen Horden” die Rede, die es schon immer auf die westliche Zivilisation abgesehen hatten, und das Konzept des größeren, des um die Ukraine und Belarus, um das mythische Sarmatien bereicherten Europa dient manchem offenbar einzig dem Ziel, Russland damit endgültig in ein ewiges Asien abzuweisen, das mit Despotie, Rückständigkeit, Barbarei identifiziert wird.
Diese Art von literarischer Geopolitik nimmt mitunter bizarre Formen an. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die belarussischen Autoren, die Martin Pollack erstmals in deutscher Sprache vorstellt. Der litauisch-polnische Doppelstaat umfasste auch große Teile der heutigen Republik Belarus, und das Weißrussische war eine seiner anerkannten Sprachen. Dass sich die belarussischen Oppositionellen heute auf das alte Sarmatien beziehen, ist also naheliegend, und dass sie hoffen, irgendwann der Europäischen Union anzugehören, durchaus verständlich.
Aber sie haben ihre Rechnung nicht nur ohne ihren Diktator gemacht, der eines Tages doch fallen wird, sondern bisher auch ohne das eigene Volk. Nicht einmal zehn Prozent aller Weißrussen sprechen Weißrussisch, das nach Epochen der Russifizierung nur noch von einer Nachhut und einer Vorhut gesprochen wird: von den Bewohnern abgelegener Dörfer und einer kleinen Schicht städtischer Intellektueller. So paradox kann Europa sein: Die belarussische Opposition, die auf den Beitritt zur Europäischen Union setzt, in der die Nationen gerade dabei sind, ihre Bedeutung zu verlieren, können in die Union nur gelangen, wenn sie zuerst eine belarussische Nation erfinden. Oder, wie es der in Minsk lebende Essayist Valer Bulhakau denkbar kurios und dankenswert offenherzig formuliert: „Es gibt nur einen von den Nachbarn erfolgreich beschrittenen Weg in Richtung Westen – dieser besteht in der Schaffung einer Nation (nationbuilding)”, was aber nur gelingen könne, wenn „man den Massen eine von den Eliten geschaffene nationale Identität einimpft”.
Es ist also eine schmale, unglückliche und drangsalierte Elite, die wider die Trägheit der Masse auf zweierlei setzt: dass endlich doch eine belarussische Nation entstehe, und sei es durch eine kräftigende Impfkur, und dass diese sodann in eine Union integriert werde, die sich bereits in einer postnationalen Phase befindet! Die Situation wird dadurch nicht einfacher, dass auch in Polen und Litauen viele Belarussen leben. Wie sollen sie ihrer belarussischen Identität, die sie proklamieren, tatsächlich innewerden, wo eine solche doch selbst im Mutterland nicht mehr oder noch nicht existiert? In einem wunderbaren Text über seine Familie erzählt Jan Maksymiuk von seinem Großvater, der nacheinander zum Staatsangehörigen fünf verschiedener Staaten wurde, ohne sein Dorf an der heutigen Grenze von Polen und Belarus je verlassen zu haben.
Zuerst gehörte sein Dorf zum russischen Zarenreich, dann zur Republik Polen, später kurz zur Sowjetunion und noch kürzer zum Großdeutschen Reich, dessen Truppen gerade in diesem Gebiet Verbrechen in unfassbarem Ausmaß verübten, und endlich zur Volksdemokratie Polen. Dabei war der Großvater Weißrusse. Maksymiuk, der James Joyce ins Weißrussische übersetzt hat, schreibt selber übrigens auf Polnisch und hat, als Angehöriger der weißrussischen Minderheit, immer in Polen gelebt.
Was macht jemanden zum Angehörigen einer Nation, die schon fast ausgelöscht worden war, noch ehe sie sich im modernen Sinn als solche hätte etablieren können? Und an die heute die meisten, die in Belarus leben, nicht glauben? In den weißrussischen Erzählungen und Essays, die Pollack präsentiert, wird ein Stoff beschworen, der im Westen, dem die belarussische Opposition ihr Land einfügen möchte, längst im Giftschrank der Geschichte deponiert wurde. „Wir erheben keine Ansprüche, aber in uns meldet sich die Stimme des Blutes”, heißt es etwa in der Erzählung, in der Siarhiej Dubaviec seinen Vater porträtiert. Der in Litauen lebende, auf Litauisch schreibende Marius Ivaskevicius wiederum, der von sich sagt, dass „mein Blut zu drei Vierteln weißrussisch ist”, nennt die eindringliche Geschichte seiner Reise nach Belarus im Untertitel gleich einen „Versuch, mein Blut zum Reden zu bringen”. Auch wenn weder westlicher Hochmut noch reflexartige Abwehr angebracht sind, muss doch bezweifelt werden, dass eine moderne Nation auf dem Mythos des Blutes gegründet werden kann.
In den polemischen und verzweifelten Beiträgen der weißrussischen Autoren wird anschaulich, was aus Sarmatien, der „versunkenen Mitte Europas”, die sich einst stolz und selbstbewusst gegen die großen Mächte im Osten und im Westen behauptet hatte, geworden ist. Ein Zwischeneuropa, das vom Westen mit Ideen und Waren beliefert wird, die hier verspätet und bereits in beschädigtem Zustand eintreffen, und das vom Westen doch als Teil eines Ostens abgewiesen wird, zu dem es in seiner Geschichte immer nur erzwungenermaßen gehörte. In seiner „Kindlichen Sarmatien-Enzyklopädie” hat der litauische Autor Sigitas Parulskis beschrieben, wie er seine sarmatische Herkunft als doppelte Zurückweisung erlebte. 1985 war er als Angehöriger der Roten Armee in Cottbus stationiert. Für seine russischen Vorgesetzten und Kameraden galt er, der Litauer, als verkappter Deutscher, jedenfalls als Westler, den man im Auge behalten musste, als potenzieller Verräter, ja als „verfickter Faschist”, während die Deutschen in ihm gerade den Russen, den Besatzer aus dem Osten sahen. Damals hat sich ihm erstmals die Frage gestellt, „wer ich bin und was ein Litauer ist”, und er konnte sie nur negativ beantworten, indem er darauf beharrte, weder der eine noch der andere zu sein, für den man ihn hielt. Ein Mann aus Zwischeneuropa.
Pollack hat sein Lesebuch mit einer kompakten historischen Einführung versehen und zauberhafte wie fragwürdige, zarte und rabiate, stimmungsvolle und rhetorische Texte versammelt, die sich vielfach ineinander spiegeln. Erzählt ein Autor aus Vilnius von seiner Zeit als Soldat in Deutschland, schreibt der deutsche Autor Stephan Wackwitz eine melancholische Reportage über einen Sommernachmittag in Vilnius; berichtet die Polin Natasza Goerke in einer furiosen Erzählung, wie sie in Deutschland Boden unter den Füßen fand, legt die deutsch-sorbische Autorin Kerstin Mlynkec die rasante Geschichte einer Reise durch Polen vor. Ja, Sarmatien, aber wo liegt es, jenseits von Verheißung und Verwerfung? Wir sind gerade erst dabei, unseren Kontinent zu entdecken, und Bücher wie dieses sind dabei eine unentbehrliche Hilfe. KARL-MARKUS GAUSS
MARTIN POLLACK (Hrsg.): Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 361 Seiten, 28 Euro.
Juri Andruchowytsch wettert gegen „eine schwere Sünde”
Ein litauischer Soldat der Roten Armee erzählt von Cottbus
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als differenzierte Erkundung der Landschaften Sarmatiens, des riesigen Raums zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, würdigt Sabine Berking vorliegenden Band, den der Übersetzer und langjährige polnische "Spiegel"-Korrespondent Martin Pollack herausgegeben hat. Sie bescheinigt den Autoren, sich diesem im letzten Jahrhundert untergegangenen Kulturraum in Reiseberichten, historischen Essays, zeitkritischen Aufsätzen, Erzählungen und Reportagen umsichtig anzunähern. Besonders hebt sie Reinhard Jirgls Morphologie des Heimatbegriffs, Kathrin Schmidts Suche nach Sarmatien in Johannes Bobrowskis Gedicht "Gestorbene Sprache" sowie Julia Francks Erzählung über Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten in Stettin hervor. Dass die heterogenen Beiträge des Bandes kein eindeutiges Bild der sarmatischen Landschaften zeichnen, sondern eher ein "vages, unscharfes" wundert Berking nicht. Nichtsdestoweniger scheint ihr der Band überaus lesenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH