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Eine Prostituierte, ein buddhistischer Mönch und ein Klomann, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng-Shui-Meister - sie und viele andere hat Liao Yiwu, einer der bekanntesten Autoren Chinas und selbst ehemaliger politischer Häftling, mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen befragt. Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen - ein China, in dem archaische Mythen und Riten allen politischen und technischen Revolutionen zum Trotz noch lebendig sind, ein China der…mehr

Produktbeschreibung
Eine Prostituierte, ein buddhistischer Mönch und ein Klomann, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng-Shui-Meister - sie und viele andere hat Liao Yiwu, einer der bekanntesten Autoren Chinas und selbst ehemaliger politischer Häftling, mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen befragt.
Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen - ein China, in dem archaische Mythen und Riten allen politischen und technischen Revolutionen zum Trotz noch lebendig sind, ein China der Ausgestoßenen und Randständigen, deren Würde, Witz und Menschlichkeit ihnen niemand hat nehmen können.
Autorenporträt
Liao Yiwu, auch bekannt als Lao Wei, ist ein chinesischer Schriftsteller, Dichter und Musiker. Aufgrund seiner kritischen Haltung zur chinesischen Regierung sind Liaos Werke in der Volksrepublik China verboten.
Liao Yiwu wuchs zur Zeit der großen Hungersnot auf, die eine Folge des "Großer-Sprung-nach-vorn"-Programms zur wirtschaftlichen Stärkung Chinas war. Als 1966 die Kulturrevolution begann, wurde sein Vater als Revolutionsgegner angeklagt. Um die Kinder zu schützen, ließen sich Liaos Eltern scheiden. Gemeinsam mit seiner Mutter wuchs Liao in Armut auf.

Nach Beendigung der Sekundarschule reiste Liao durch China und arbeitete als Koch und Lastwagenfahrer. Zu dieser Zeit beschäftigte er sich intensiv mit westlicher Lyrik und begann, selbst zu dichten.
In den 1980er Jahren war Liao einer der bekanntesten jungen Dichter in China und veröffentlichte regelmäßig in wichtigen Literaturmagazinen. Einige seiner Werke erschienen in den Zeitschriften der Untergrund-Literaturszene, da diechinesischen Behörden Gedichte im Stil westlicher Lyrik als "geistige Verschmutzung" ansahen. Aufgrund dieser Verbindungen steht Liao seit 1987 in China auf der Schwarzen Liste. Er wurde wiederholt verhaftet.
2012 wurde Liao Yiwu mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2009

Dünne Haut, frischer Wind
Der O-Ton der chinesischen Gegenwart: Liao Yiwus „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser”
Mit Verlaub: Wie doof sind die chinesischen Funktionäre eigentlich? Wollten die nicht Gastland der Buchmesse werden, um sich in Frankfurt zu profilieren? Als Kulturnation und vielstimmiges Land? Als Gesellschaft, die mittlerweile souverän genug ist, auch abweichende Stimmen gelten zu lassen? Bislang erinnern sie in ihrem panischen Propagandabestreben eher an nordkoreanische Betonköpfe als an würdige Vertreter eines Gastlandes: Erpressen die Buchmesse, vor dem Eröffnungssymposium missliebige Autoren auszuladen; führen sich auf dem Symposium selber auf wie kleinstädtische Funktionärsflegel; und jetzt verweigert die Pekinger Staatssicherheit mit Liao Yiwu dem ersten Autor die Einreise nach Deutschland während der Buchmesse (SZ vom 24. September). Was für ein grandioser PR–Gau!
Liao Yiwu war vor drei Tagen noch kaum einem Deutschen ein Begriff. Gestern druckte die taz seinen charismatischen Kopf auf der Titelseite. Bessere Werbung ist kaum denkbar. Und in dem Fall ist das so erfreulich, weil man es gar nicht laut genug sagen kann: Leute, lest Liao Yiwu! Lest „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten”, und ihr bekommt haargenau das, was die chinesische Staatssicherheit dem deutschen Publikum so ängstlich vorenthalten will: Die Komplexität dieses Landes, seine Zerrissenheit zwischen funkelnder Hypermoderne und Traditionsresten, seine so unvergleichlich grausame jüngere Geschichte und den geradezu frenetischen kollektiven Versuch, all das möglichst zu vergessen.
„Fräulein Hallo und der Bauernkaiser” ist eine fast sechshundertseitige Sammlung von Gesprächsprotokollen. Liao sammelt seit Jahren Lebensgeschichten von Menschen, die es in der besten aller Welten, im offiziellen China gar nicht geben dürfte, Prostituierte und Obdachlose, Menschenhändler oder den vom Glauben abgefallenen Funktionär, der sich noch daran erinnert, wie er 1960, zur Zeit des Großen Hungers, Menschen aufspürte, die ihre zweijährige Tochter aßen: „An jeder Seite des Waschkessels, der ihnen als Topf gedient hatte, war ein faustgroßer Fleischbrocken. Er war fast gar, die Haut über dem Fleisch eines Menschen ist dünn, wenn man es kocht, schnurrt es richtig verlockend zusammen.” Noch 49 Jahre später ist in diesem Satz konserviert, welchen Hunger die Menschen damals gehabt haben müssen. Der Mann, der hier spricht, ist entsetzt über das, was er sieht, er verhaftet den Kannibalen und seine Familie – und doch: Selbst ihm erschien anscheinend seinerzeit das Fleisch einer Zweijährigen als „verlockend”.
Liao fährt in ferne Provinzen und karstige Täler, in Gefängnisse oder vergessene Dörfer und bringt die Menschen zum Reden. Stunden-, manchmal tagelang sitzt er bei ihnen, ausgestattet mit der Gabe des vorbehaltlosen Zuhörens. „Wie nett wir uns unterhalten”, sagt der Toilettenmann Zhou Minggui im nächtlichen Chengdu erstaunt nach ein paar Seiten, „wenn man mit dir so plaudert, weht ein frischer Wind durch einen hindurch”.
Liaos eigene Geschichte könnte ebenfalls in diesem Lebensbuch stehen: Nach dem Blutbad am Tiananmen-Platz schrieb er, außer sich vor Wut, ein Gedicht mit dem Titel „Massaker”, das er dann selbst auf Kassette aufnahm. Dieser Aufschrei wurde wie ein Kassiber weitergereicht – Liao kreischt und weint, da spricht der Schmerz sich selber. Die Regierung sollte ihm dieses Gedicht nie verzeihen, Liao kam ins Gefängnis und wurde so grausam misshandelt, dass er zweimal versuchte, sich umzubringen. Bis heute verfolgen ihn die Behörden, 14-mal wurde ihm bislang die Ausreise verweigert; keines seiner Bücher wurde je offiziell in China verlegt. Dennoch verströmt er in den hier versammelten Gesprächen eine Haltung humorvoller Gelassenheit, ja zuweilen der Demut. In einem Interview sagte er vor einem Jahr, er sei dankbar heute zu leben und nicht zu Maos Zeiten, als Millionen von Menschenleben wie Wasser durch die Zeit entflossen wären, ohne auch nur eine Spuren hinterlassen zu können.
Walter Benjamin schrieb in seinem Essay „Der Erzähler”, die Fähigkeit zu erzählen lasse in dem Maße nach, wie das Schicksal der Erzählenden entwertet wird. Immer wieder winken Liaos Gesprächspartner anfangs lachend oder misstrauisch ab: Wozu das erzählen? Wer will das wissen? Ich bin unwichtig.
Liao will es wissen, alles. Er lässt sich von Fräulein Hallo anquatschen, dem 18-jährigen Mädchen, das dem Buch seinen popliterarisch anmutenden Titel gibt. Sie reißt in den Bars von Chengdu Männer auf, ein Elementarteilchen in der endlos ausgeweiteten Kampfzone des chinesischen Wildostkapitalismus, eine unschuldige Zynikerin, die schulterzuckend sagt: „Der neue Mensch ist unterschiedslos so aus der Pressform gefallen, keiner hat Brüder oder Schwestern.”
Und er redet sogar mit einem inhaftierten Menschenhändler, der Frauen in entlegene Dörfer verkaufte, wo sie dann oft dahinvegetieren wie Leibeigene und Sexsklavinnen. Ohne alle Reue erzählt der Mann Liao, wie er gutaussehende Studentinnen belog, um sie in den Zug nach Nirgendwo zu bekommen. Liao Yiwu: „Wenn ich Richter wäre, ich hätte Ihnen als Erstes die Zunge abschneiden lassen.” Qian Guibao: „Ja, die sollte man mir abschneiden, korrekt! Es ist mir zur Gewohnheit geworden, die Leute hinters Licht zu führen, aber ich bin bereit, meine Zeit abzusitzen, um mich von dieser Sucht zu befreien.”
Als Richter würde er ihm die Zunge abschneiden, als Schriftsteller gibt er ihm eine Stimme: In der Einleitung der englischen Ausgabe schrieb Liao, der seit seinem neunten Lebensjahr mit dem offiziellen Status einer Person ohne Aufenthaltserlaubnis aufwachsen musste, das Buch sei „ein Buch der Schande und der Ungnade. Aufgrund meiner eigenen lebenslangen Schande führe ich heute das gesunde, emsige Leben einer Kakerlake. Ich habe mir erlaubt, tiefer in dieses Schlammloch der Schande zu sinken und lernte so all die anderen ,Menschen ohne Erlaubnis’ kennen.”
Einer von ihnen, der Komponist Wang Xilin, bekennt ihm gegenüber voller Reue, wie er in den sechziger Jahren andere denunzierte. Liao schreibt, dieser Mut zur Selbstdemaskierung sei selten in dieser Generation von Intellektuellen. „Aber ich glaube, dass erst diese Einstellung Wangs späte Symphonien möglich gemacht hat, die er selbst als ,musikalische Zeugenaussagen’ bezeichnet.”
Im Gespräch mit diesem Komponisten, der immer wieder mit Aufführungsverboten und anderen Schikanen zu kämpfen hat, fragt Liao, ausgerechnet er, der wie ein zwar heiterer aber doch eisern unbeugsamer Cousin des Michael Kohlhaas durch sein Leben zu schreiten scheint: „Warum sind Sie nicht einfach ein wenig flexibler?” „Ich will ja flexibler sein”, antwortet Wang, „ich will ihnen ja in den Arsch kriechen, aber meine Kehle ist zu rau, mein Weinen versetzt die Leute in Angst und Schrecken. Das Massaker vom 4. Juni, die anderen Massaker, das Heulen, die lautlosen Schreie tränenüberströmter Gesichter, das will aus mir heraus! Ich will einen Gedenkstein aus Klängen für die Opfer des Maoismus errichten”. Liao hat in diesem epochalen Buch einen Gedenkstein aus Gesprächen für all die Unangepassten des modernen China errichtet. Dass es nun dank der Mitarbeit der angepassten chinesischen Behörden deutschlandweit beworben wird, hat genau die grimmige Komik, die Liao in seinem Buch immer wieder so unverwüstlich lachen lässt. ALEX RÜHLE
LIAO YIWU: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Karin Betz und Brigitte Höhenrieder. S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2009. 544 S., 22,95 Euro.
Liao Yiwu Foto: oh
Wanderarbeiter, Zwiebelverkäufer, Tütensammler: Es sind Menschen wie diese drei, Menschen vom Rande der chinesischen Gesellschaft, die Liao Yiwu aufsucht, um sich von ihnen ihr ganz normales, ganz und gar extremes Leben erzählen zu lassen. Fotos: dpa, ecopix, Reuters
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009

Unerschrockenheit lohnt sich

Die chinesischen Behörden ließen ihn nicht zur Buchmesse reisen. Dabei lässt Liao Yiwu mit seinen Gesprächsprotokollen aus der Unterschicht wie kaum ein anderer die disparate Realität des neuen China fassbar werden.

Von Mark Siemons

In der kommunistischen Geschichte wird "das Volk" ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben: Es ist unverhohlen eine Abstraktion, der die Partei dient und die ihren Weg durch alle mögliche Unbill prinzipiell so geht, dass sie "fortschreitet", ob zur klassenlosen Gesellschaft, zur harmonischen oder zu welcher auch immer. Mit einzelnen Menschen hat diese Abstraktion nur insofern zu tun, als sie ihnen einen Code liefert, mit dem sie inmitten der kollektivistischen Anmaßungen halbwegs unauffällig überleben können.

Deshalb war es Mitte der achtziger Jahre, eine knappe Dekade nach der Kulturrevolution, eine literarische Sensation, als die Dramaturgin Zhang Xinxin und der Journalist Sang Ye die Gesprächsprotokolle "Pekingmenschen" herausgaben, in denen Chinesen aller Schichten aus der vorgeformten Sprache des "Volks" heraustraten und ganz persönliche Interpretationen ihres Lebens formulierten. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, findet diese Sensation eine Fortsetzung: Die "Interviews mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft", die der Dichter Liao Yiwu unter dem deutschen Titel "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" festhält, dokumentieren nicht nur, wie sehr sich die Individualisierung und gesellschaftliche Ausdifferenzierung in China mittlerweile weiter von vorgestanzten Formen entfernt haben. Die Gespräche des Bandes, der 2001 in Teilen in China erschien und kurz darauf verboten wurde, nehmen die Auseinandersetzung mit dem offiziellen Geschichtsbild der Kommunistischen Partei, die in dem früheren Buch allenfalls andeutungsweise geführt werden konnte, auch direkt auf.

Das ist umso eindrucksvoller, als dies ganz absichtslos, unprogrammatisch geschieht. Keines der Gespräche, die Liao mit Bardamen, Klomännern, Fengshui-Meistern und politisch Verfolgten geführt hat, will etwas Bestimmtes beweisen. Viele der Protokolle beginnen mit vorsichtigen Annäherungen; die Gesprächspartner sind bisweilen misstrauisch und wollen nicht recht mit der Sprache heraus, und erst allmählich, eben wie im wirklichen Leben, findet die Unterhaltung ihren roten Faden. "Ich bin kein Reporter", sagt Liao deshalb auch einmal über sich, "ich bin nur ein einfacher Mann, der die Gefühle des Volkes untersucht."

Die meisten derer, die sich da der Geschichte, wie sie die Parteiführung jetzt wieder zum sechzigjährigen Jubiläum der Volksrepublik propagiert, entziehen, wurden ohne eigene Absicht in den Eigensinn hineingezogen. Eigentlich wollten sie so ruhig und unauffällig leben und kollaborieren - aber die Umstände ließen ihnen keine Chance. Der Bauer Zhou Shude zum Beispiel konnte jahrzehntelang nur an Arbeit denken, um die Schulden, die der opiumsüchtige Bruder der Familie aufgehalst hatte, loszuwerden.

Doch nach der "Befreiung", wie der Regierungsantritt der Kommunisten auch von deren Opfern genannt wird, galt er 1950 plötzlich als "Grundbesitzer", und in den nächsten 25 Jahren musste er mit anderen so Etikettierten und mit sogenannten Rechtsabweichlern das lebendige Objekt der regelmäßig stattfindenden Kampfversammlungen in seinem Dorf abgeben. Dem opiumsüchtigen Bruder gegenüber, der plötzlich als "armer Bauer" definiert ist und Oberwasser bekommt, bleibt er freilich auch in seiner erbärmlichen Lage kein Wort schuldig: "Ich bin Grundherr, du bist ein armer Bauer", bescheidet er ihn, "wir wollen doch eine klare Klassenlinie zwischen uns ziehen!" Deng Kuan, der sich als buddhistischer Mönch sein ganzes Erwachsenenleben nur mit Sutren beschäftigt hatte, sah sich zur selben Zeit plötzlich als "Tempel-Großgrundbesitzer" jahrzehntelangen Demütigungen ausgesetzt. "Von 1950 bis zum Vorabend der neuen Religionspolitik 1978 war das zeitlich längste schlechte Karma in der Geschichte Chinas", ist sein Resümee.

Der Klomann erzählt eine Geschichte Chinas ganz von unten.

Feng Zhongci war ein engagierter Komiteesekretär der Kommunistischen Jugendliga und zögerte 1957 zunächst auch nicht, die Kampagne gegen Rechtsabweichler mitzutragen, die auf das trügerische Tauwetter der Tausend-Blumen-Bewegung folgte. Doch dann wendete sich der Wind auch gegen eine Frau mit "schlechtem Klassenhintergrund", mit der er häufig zusammen war, und um ihn zu retten, gab die Parteiführung die Sprachregelung aus, er habe sich nur auf sie eingelassen, "um die Schlange aus ihrem Bau zu locken". Diese Infamie konnte er nicht ertragen: Er bekannte sich öffentlich zu der Frau, die er später heiratete, und fortan galt er selbst als Rechtsabweichler und übles Element. 32 Jahre später war es der reine Zufall, der den Funktionär und Bankdirektor Wan Baocheng die Nacht zum 4. Juni 1989 in einem Pekinger Hotelzimmer verbringen ließ, von wo aus er einen Soldaten der Volksbefreiungsarmee einem jungen Mann mit dem Sturmgewehr in den Rücken schießen sah. Er konnte nicht anders, als diese Szene aufzuschreiben, die Notiz zu kopieren und später im Zug zu verteilen. Wochen vergingen, in denen er fast schon die offizielle Version der Ereignisse zu akzeptieren begann, und dann wurde er doch noch festgenommen und zum Widerruf des Geschriebenen aufgefordert. Sogar sein Vater, ein alter Kämpfer der Volksbefreiungsarmee, beschwor ihn: "Mach, was die Partei dir sagt! (. . .) Man sieht, was man sehen soll, und was man nicht sehen soll, das sieht man nicht." Dazu war er nicht bereit, und deshalb wurde er als "Konterrevolutionär" zu vier Jahren Haft verurteilt.

Liao Yiwu selbst wurde wegen eines Gedichts, das er nach der Niederschlagung der Studentenbewegung geschrieben hatte, für vier Jahre inhaftiert und in dieser Zeit schwer misshandelt. Spätestens seit dieser Zeit scheint er alle Befangenheiten überwunden zu haben, die die meisten seiner Landsleute noch zur Rücksicht gegenüber verordneten Tabus oder überkommenen Konventionen anhalten. Nicht einmal die jahrtausendealten Gewohnheiten seines eigenen Gelehrtenstatus schont er. "Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen", schreibt er mit gehöriger Selbstironie, als er einen Klomann aufsucht, "und streifte das Selbstverständnis eines sogenannten Intellektuellen ab, um dieses Interview zu führen." Die Unerschrockenheit lohnt sich: Das Gespräch liefert tatsächlich eine Geschichte Chinas von ganz unten, nämlich aus der Perspektive der Fäkalienbeseitigung. Der unternehmerische Klomann Zhou Minggui erzählt von der Zeit, als jeder seine Exkremente selbst zum Klärwagen brachte ("damals war man sehr eng miteinander verbunden") und als Fäkalien sogar häufig von Räubern gestohlen wurden, die sie dann als Dünger weiterverkauften. Wer erwischt wurde, musste eine Selbstkritik schreiben und sich eindeutig vom Revisionismus distanzieren. Liao lobt den Witz des Klomanns, der darauf trocken zurückgibt: "Das steht außer Frage, wir arbeitendes Volk, nicht wahr, wir nehmen es, wie es kommt."

Der Bauernkaiser hielt Hof im besetzten Krankenhaus.

Dabei gibt sich der Interviewer keiner falschen Romantik der Basis als einem Hort der besseren Menschen hin. Er besucht auch einen Verbrecher im Gefängnis, der junge Frauen entführt und an Heiratswillige auf dem Land verkauft hat (auch hier lauert der größte Schrecken im Detail, etwa wenn der Mann erzählt, den größten Ärger hätten gebildete Frauen gemacht: "Ein Mädel haben sie einen Monat in ein Erdloch gesteckt, aber sie hat sich nicht gefügt"). Dann interviewt er einen ehemaligen Rotgardisten, der ungerührt berichtet, wie er seinen Schuldirektor während der Kulturrevolution durch öffentliche Demütigungen in den Selbstmord trieb und sich im nächsten Moment an die Massenbegeisterung auf dem Tiananmen erinnert: "Vielleicht haben wir nur für diesen Tag, nur für diesen Augenblick gelebt."

Auch manches Groteske auf dem chinesischen Weg in die Moderne kommt zum Vorschein. 1993 besuchte Liao einen Mann im Gefängnis, der von den Bauern dreier Landkreise als Kaiser verehrt wurde und in einem von seinen Getreuen besetzten Krankenhaus einen eigenen Hofstaat errichtet hatte. Sein "Reich des Großen Überflusses" gewann Popularität vor allem dadurch, dass es sich gegen die staatliche Geburtenplanung stellte: "Die verheirateten Frauen", sagte der Kaiser, "wollten lieber Höhlen in die Berge bohren, von wildem Gemüse leben, Quellwasser trinken und das Leben von Wilden führen als im Strom der Menschen unterzugehen." Der Kaiser interpretierte es als alte Sitte, dass ihm die Krankenschwestern als Konkubinen zugeführt wurden. Als das Hospital schließlich von der Armee umstellt wurde, sollten sich die Konkubinen als Märtyrerinnen des Reichs in den Lotusteich stürzen: "Leider war der Teich nicht tief genug, niemand konnte darin ertrinken." Zur Zeit des Interviews wurde dem Kaiser wegen guter Führung in der Haft erlaubt, ein Studium an der Universität zu beginnen.

Einmal begegnet Liao auch dem "neuen Menschen". So bezeichnet sich ein Animiermädchen, das über die alten Menschen nur noch durch Spielfilme informiert ist. Ihr kommt Liao wie ein Exemplar einer aussterbenden Gattung vor. "Ich nehme an", sagt sie ihm belustigt, "du gehörst zu der Generation mit den bitteren Erfahrungen und dem Hass im Herzen." Liao gibt ihr später zurück, sie habe wohl überhaupt kein Herz - was sie wiederum an Transformer-Filme erinnert, die sie gesehen hat: "Maschinenmenschen haben kein Herz." In der Tat, Liao Yiwu ist alles andere als ein Maschinenmensch, und sein Herz ist so groß, dass sogar diese coole Vertreterin des neuen chinesischen Menschen in ihm Platz findet. Es ist von einer tragikomischen, absurden Folgerichtigkeit, dass ihm die chinesischen Behörden die Ausreise zur Buchmesse verweigert haben - so wie sie ihn schon sein ganzes Leben lang nicht ins Ausland gelassen haben. Kaum jemand dürfte die Welt über die disparaten Realitäten des neuen China heute umfassender unterrichten als er.

Liao Yiwu: "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser". Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Karin Betz und Brigitte Höhenrieder. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 544 S., geb., 22,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In die Schlagzeilen hat es der Autor Liao Yiwu gerade gebracht, weil ihm China die Ausreise nach Deutschland zur Frankfurter Buchmesse schlicht verweigert. Die Aufmerksamkeit, die Yiwu so bekommt, hat ganz entschieden auch das Buch, das er in Frankfurt vorstellen wollte, verdient. Das versichert Alex Rühle, der dennoch erst einmal den Kopf schüttelt über die chinesische Literatur-Politik, die sich hier im schlechtesten Licht zeigt und als ausgesprochen unsouverän erweist. Gewiss könne den Regierenden, was in Liao Yiwus Buch zu lesen steht, kaum gefallen - schon, weil es ganz der chinesischen Gegenwartswirklichkeit abgelauscht sei. Der Autor, in China schon lange verfemt und malträtiert und nie offiziell veröffentlicht, ist durchs Land gereist und hat, was ihm die Leute erzählen, zu Protokoll genommen. Da gibt es den Funktionär, der "vom Glauben abgefallen" ist, den Toilettenmann, den Komponisten und auch den Menschenhändler, der ganz offen und ohne Reue berichtet. "Epochal" findet Rühle das Buch, das dabei entstanden ist. Ein erstaunliches Porträt insbesondere jener Seiten des China von heute, die man von offizieller Seite lieber verschweigt.

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