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Deutschland, in den fünfziger Jahren: Ein junger Mann reist mit Zug und Schiff in ein Sanatorium auf einer entlegenen Nordseeinsel. Er ist lungenkrank, jeder Tag kann der letzte sein. Während das Land sich blind für die Vergangenheit dem Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hingibt, scheint in der zauberbergartigen Isolation der Heilanstalt die Zeit abgeschafft. Umgeben von den steten Naturgewalten geht es für die Bewohner des Sanatoriums "auf der anderen Seite der Welt" nur um Leben und Tod - und um ein erinnerndes Erzählen, das nicht enden darf.

Produktbeschreibung
Deutschland, in den fünfziger Jahren: Ein junger Mann reist mit Zug und Schiff in ein Sanatorium auf einer entlegenen Nordseeinsel. Er ist lungenkrank, jeder Tag kann der letzte sein. Während das Land sich blind für die Vergangenheit dem Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hingibt, scheint in der zauberbergartigen Isolation der Heilanstalt die Zeit abgeschafft. Umgeben von den steten Naturgewalten geht es für die Bewohner des Sanatoriums "auf der anderen Seite der Welt" nur um Leben und Tod - und um ein erinnerndes Erzählen, das nicht enden darf.
Autorenporträt
Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, lebt heute in Basel. Im S. Fischer Verlag erschien seine große Romantrilogie "Das Haus auf meinen Schultern"; sein Drama "Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung" war ein Welterfolg. Über seine Arbeit gibt Auskunft "Vom Verdichten der Welt. Zum Werk von Dieter Forte".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Nach den Todesmärschen kam der Jazz
Deutschland, ein Nachkriegsmärchen: Dieter Forte entzaubert die Zeit des Wirtschaftswunders / Von Friedmar Apel

Bei E. T. A. Hoffmann schaut der Erzähler gern aus dem Fenster. Auf der Schwelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bietet sich "die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens" dar. Aber das Fenster ist an der Schwelle zur Moderne auch die Stelle der Reflexion eines Erzählens, das nicht mehr auf festgefügte Ordnungsmuster zurückgreifen kann. Im Blick durch das Fenster erläutert Hoffmanns kranker Schriftsteller dem hoffentlich gesunden Leser "die Prinzipien der Kunst des Schauens", den Zugang zur Sichtbarkeit der Welt durch die Mittel der Literatur. Das Verhältnis des Subjekts zur Welt ist dabei, so heiter-ironisch es sich geben mag, immer eines der Gefährdung, der bedrohten Individuation in einer Welt der zunehmenden Zweckrationalität.

Auch am Ende von Dieter Fortes 1999 scheinbar abgeschlossener Romantrilogie "Das Haus auf meinen Schultern", welche die Geschichte zweier europäischer Großfamilien schließlich im Düsseldorf des Bombenkriegs zusammengeführt hatte, fand sich wie notwendig das Motiv des Fensterblicks ein. Der kränkliche junge Mann, auf den alles zulief, mußte nach Kriegsende länger das Bett hüten, und so hatte er die Welt nur noch in dem Ausschnitt seines Fensters. Das disponierte ihn zum Schriftsteller, und der Leser hätte wissen können, daß Forte mit seiner Geschichte längst noch nicht fertig war. Denn so ist es bei ihm mit den Geschichten: "man kann sie nicht zu Ende erzählen, man muß immer wieder von vorne anfangen, denn am Ende fängt ja alles wieder von vorne an, alle Geschichten kreisen um die gleiche Leere, und es ist immer das Leben, das man in den Geschichten sucht und begreifen möchte."

Am Anfang des neuen Romans schließt der junge Mann, auf den der Erzähler zurückblickt und der er zugleich ist oder war, Abschied nehmend ein Zugfenster. Der Lungenkranke fährt zu einem auf einer Nordseeinsel gelegenen Sanatorium, und er befürchtet, daß es die Überfahrt auf seine Toteninsel sein wird. So ist der Blick aus dem Zugfenster einer zum Tode. In der ausführlichen Genauigkeit perspektivierter Beobachtung scheint der junge Mann die Buntheit und Vielgestaltigkeit des sichtbaren Daseins wie zum letzten Mal gierig in sich aufsaugen zu wollen, zugleich ist sein Blick durchtränkt von der Ahnung der Nichtigkeit aller Dinge.

Im Bewußtsein seiner Lebenskürze verfolgt er die gewöhnlichen Verrichtungen der Menschen wie neidisch, zugleich erscheinen sie ihm als mechanische Groteske, die sich in den Dingen abbildet. Der schwere Reisekoffer aus dem Hause Horten, angeblich eine Anschaffung fürs Leben, stürzt stellvertretend für das Subjekt wie im Slapstick von einer Beschädigung in die andere. "Eine eiserne Rutsche wurde an das Schiff gehängt, der Koffer darauf gestellt; ein Tritt, und er sauste allein an Land, wobei der letzte Holzreifen absprang." Entsprechend scheint der junge Mann schon auf der Reise Stück um Stück von bürgerlichen Banden befreit zu werden. Nur die dem Koffer inliegende, in Schönschrift ausgeführte Wäscheliste seiner Mutter gibt ihm noch Halt, aber auch dieses Bild schöner Ordnung geht nach dem Auspacken in seinem schäbigen Krankenzimmer bald verloren.

Durch das Fenster kann der junge Mann auf den Deich blicken, der Meer und Land trennt, Sinnbild des menschlichen Willens zur Abtrennung einer ruhigen und begrenzten Welt von einer bewegten und unbegrenzten. Die verstellbaren Fensterflügel in Kombination mit seinem Waschspiegel werden ihm zu "einem komplexen System der Weltaneignung, das durch kleinste Veränderungen, durch minutiös verschobene Brechungen des Lichts, eine sich als Ganzes darstellende Außenwelt in Prismen zerlegte". Fenster und Spiegel entsprechen Fortes erzählerischen Vermessungsinstrumenten, mit denen er in einer verdoppelten Perspektive Distanz und Nähe, Innen und Außen in eins bilden will. In der perspektivischen Verschiebung wird sich erweisen, daß Leben Wiederkehr des Gleichen ist und doch unendliche Mannigfaltigkeit.

Das erschließt sich keiner vorfindlichen und festen Ordnung des Erzählens. Aus der Beobachtung des Meers ergibt sich für den jungen Mann wie natürlich eine Poetik der Unregelmäßigkeit, "weil nur die unregelmäßige Bewegung dem sich verändernden Leben entsprach und alles Regelmäßige und Unbewegte auf den Tod zulief". Die sichtbaren Dinge der Natur zeigen sich ihm in ihrer vielgestaltigen Oberfläche, zugleich erscheinen sie im Blick des Todkranken als mythopoetisch beseelte Wesenheiten in unendlich erweiterter Raumzeitlichkeit. "Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief." Schon die Reise erscheint als Lebensfahrt auf den Spuren Dantes, überall eröffnen sich Ausblicke in die Geisterwelt, in die Hölle oder ins Paradies. Fortes Welt aber ist eine Tragikomödie ohne Transzendenz. Das Paradies kann für den, der aus dem Nichts kommt, das armselige Café am Hafen sein, die Hölle aber überall, wo der Mensch nicht frei atmen und gehen kann. Die Insel wird dem jungen Mann, der Erzähler werden wird, zum Ort der existentiellen Bewährungsprobe und der Vernichtung aller bequemen Gewißheit: Die Lungenklinik im Zauberberg, die bei Thomas Mann trotz düsterer Vorahnungen noch ein Gehäuse charmanter Gesellschaft sein konnte, ist nach der deutschen Katastrophe zur Schädelstätte der Geschichte, zum Gedächtnis akkumulierten Leidens geworden. "Sein Leben an diesem Ort würde ihn für immer von den Menschen entfernen, das spürte er. Sollte er durch einen unbändigen Willen hier herauskommen, wäre nichts mehr so, wie es einmal war." Das Sanatorium wird ihm zum Haus, in dem sich Geschichten über die Welt verknüpfen, und der Friedhof ist eine Bibliothek, in der er mit Toten sprechen kann. Alles Verstehen oder Mißverstehen findet in Geschichten statt, mögen sie wahr sein oder erlogen, mögen sie Schmerz bereiten oder Vergnügen.

Zurück aber "aus einer fernen Abwesenheit", die zur Bedingung des Schreibens werden wird, in der Welt des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders, fühlt sich der Entronnene "mit dem erschrockenen Blick des Fremden" als nicht zugehörig. Die Geschichte des jungen Mannes löst sich nun langsam auf und verknüpft sich zugleich mit Geschichten von vielen, wie sie sich durchgeschlagen haben nach dem Krieg, was sie erlitten haben oder zugefügt, was sie verloren haben oder gewonnen; Geschichten von Anpassung oder Subversion, Verzweiflung und Überschwang, Geschichten zum Tode allesamt.

Der immer noch kränkliche junge Mann kommt in eine Wirklichkeit, die ihn zurückstößt und abstößt, in eine Welt der Herz- und Rücksichtslosigkeit, in der die Wiederkehr der Schönheit von der Persildame verkörpert wird, durch "das hygienische, alles säubernde, alles reinigende Waschmittel in der Qualität der Vorkriegszeit". Die Fülle des Lebens ist inzwischen im Kaufhauskatalog zu erfahren: "das neue Paradies zum Zugreifen". Für die Rückbindung des Individuums sorgt Fox tönende Wochenschau. "Sepp Herberger im Regenmantel und der verschwitzte Fritz Walter, die jubelnden Massen, der Pokal, der treue Blick der Helden." Die Deutschen sind wieder wer, das Gerümpel vergangenen Lebens ist schon fast beiseite geräumt. Wer sich erinnert, hat schon verloren. Porentief reine Amnesie auf dem Grund der neuen Währung; die Deutsche Mark ist die bare Münze der Gegebenheit. Der Reichtum ist schnell wieder da, zumal bei jenen, die ihn vorher schon besaßen. Die Zeit aber ist knapper denn je geworden, auf das richtige Leben wird an der Stechuhr verzichtet.

Dabei hätte alles anders kommen können. Für einen Augenblick der Weltgeschichte blitzt dem Erzähler über den Trümmern der deutschen Städte eine andere Wirklichkeit auf; Signale, ausgesandt von Menschen, die wenig mehr hatten als Brot und Wasser und ein paar Fetzen am Leibe. "Ideen, Pläne, Phantasien. Die Welt explodierte in Licht, Farbe und Musik. Nie gab es soviel Leben, Leben, das man körperlich spürte. Leben, das sich in die Welt schleuderte, Leben aus dem Tode auferstanden." Zwei Weltkriege lang wurden Todesmärsche gespielt, für einen Moment war ein Rhythmuswechsel zu erahnen. "1 und 3, 2 und 4. Rückmarsch ins Leben." Jazz als stellvertretende Form des Vorscheins einer anderen Welt: eine neue Harmonie für alle, aber jeder improvisiert seine eigene Melodie.

So ist es nicht gekommen: die Chance der Freiheit vertan, die Idee einer Gesellschaft jenseits von Egoismen, in der das Individuum sich aufgehoben fühlt, ohne unterdrückt zu werden, verlacht als romantische Idee, die Einsamkeit des Menschen auf Dauer gestellt. So lassen sich auch im Roman die Geschichten nicht mehr verknüpfen, die Einzelstimmen nicht mehr rückbinden. Die Erzählung zerstreut sich in Erinnerungsfetzen und in der Reflexion der Erinnerung selbst. Noch einmal sieht sich der Erzähler schließlich einsam am Ort seiner Berufung: "In der Stille das geduldige Erwarten des ersten Morgengrauens, vor langer Zeit in einem Fenster, das auf eine Straße sah und ihm die Menschen zeigte, nun die Erlösung des letzten Tages nach der letzten Nacht, nach den vielen Tagen und Nächten, die einmal sein Leben waren im explodierenden Todesstrudel der Bomben, im erstickenden Tod des versagenden Atems." Form wird im Fortgang des erinnernden Erzählens als aufgelöste selbst zum Kommentar. Das Ganze der deutschen Nachkriegswirklichkeit erscheint als das Unwahre und Falsche. Hier stößt sich kein erzähltes Subjekt die Hörner ab, um sich schließlich in die Vernünftigkeit der bestehenden Verhältnisse hineingebildet zu finden.

Vielmehr zeigt Forte den Schriftsteller radikaler und zugleich kunstvoller denn je in der Position eines grundsätzlichen Widerstands gegen das in Deutschland Gewordene und Bestehende. In einer Zeit der erneuten durchgreifenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche unter Einschluß der Bildung, unter einer Politik der Verrechnung, zu der es angeblich keine Alternative gibt, und zu der neoliberalistische Profitgier und kleinliche Besitzstandsangst den deutschen Katzenjammer intonieren, sollte niemand den Fehler machen, diesen brillant geschriebenen und tief bewegenden Roman lediglich als eine Schule der folgenlosen pathetischen Anwandlung zu lesen.

Dieter Forte: "Auf der anderen Seite der Welt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 352 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2004

Das Licht weit hinter dem Meer
Abschied von den Eltern: Dieter Fortes Roman „Auf der anderen Seite der Welt”
Ein junger Mann steigt mit einem riesigen Koffer allein in einen Zug. Winkend steht die Familie am Bahngleis, ein Bild, das, noch während es sich einprägt, zum Erinnerungsbild wird: Das war die Familie, zu der er gehörte, deren Nestwärme er verlassen musste, um, vielleicht, zu überleben. Dieter Fortes „Auf der anderen Seite der Welt” ist der Roman einer persönlichen Weltbildkatastrophe. Der junge Mann hat als Kind den Bombenterror des Zweiten Weltkriegs überlebt, saß voller Angst in Luftschutzkellern, robbte sich ins Freie, immer wieder, in eine zunehmend zerstörte Außenwelt, floh schließlich mit Mutter und Bruder vom ausgebombten Düsseldorf ins vergleichsweise unversehrte Süddeutschland.
Nach der Rückkehr die Reste einer Trümmerkindheit, die Anarchie einer aus den Fugen geratenen Welt, kleine Freuden des Neubeginns. Die Familie hält zusammen, aus zerbombten Mauern baut man behelfsmäßige Wohnräume, rappelt sich auf, organisiert Nahrung und Gebrauchsgegenstände. Doch während es für die anderen langsam wieder bergauf zu gehen scheint, zerfrißt es den jungen Mann von innen. Der Staub der Zerstörung, Mangelernährung, die ständige Angst, vermutlich auch eine nicht ausgeheilte Tuberkulose haben seine Lunge so nachhaltig geschädigt, dass nur der Aufenhalt in einem Sanatorium Rettung verspricht. Er ist auf dem Weg zu einer Nordseeinsel, Zug und Schiff werden ihn dorthin bringen. Am Horizont wird nichts sein als das Meer, der eigene Bewegungsradius wird eingeschränkt.
„Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief.” Diese Passage wird zu Beginn jeden Kapitels wiederholt. Nur zweimal öffnet sich der Satz auf eine Fortsetzung hin, sonst bleibt er, in sich kreisend, geschlossen.
„Auf der anderen Seite der Welt” ist nur oberflächlich ein Roman über die fünfziger Jahre. In seinem Innern erzählt er von der Angst, für immer von der Welt der Lebenden abgetrennt zu werden. Die Insel ist nicht nur realer Ort der Handlung, sondern zugleich Symbol der Bedrohung. Selbst zur Insel zu werden, ist das Schicksal, das der junge Mann mindestens ebenso fürchtet wie seinen Tod.
Der Erzähler versucht, die körperliche Enge seines Helden durch zaghaft erweiterte Kreise zu öffnen. Die Sphäre des Bettes ist da schon mehr als der eigene Körper, das mit anderen Kranken geteilte Zimmer kann im Gespräch ein wenig luftiger werden, die Räume des Sanatoriums lassen sich einigermaßen gefahrlos begehen, die heimlichen Freigänge in eine Kneipe wirken belebend, der erlaubte Besuch des Friedhofs provoziert ein Gespräch mit den Toten, der Gang zum Meer lässt vorsichtig an Abfahrt denken.
„Auf der anderen Seite der Welt” wimmelt von Kugel-Modellen. Lang und dünn wie eine Bohnenstange ragt der junge Mann einsam aus jeder dieser Kugeln in die Welt. Die Erde ist eine „Fehlkonstruktion”, keiner kommt ins Innere des Globus hinein. „Im Inneren dieser Kugel hätte sich alles nach innen gekrümmt, die Aussicht wäre entschieden interessanter gewesen, Städte und Landschaften schon von weitem gut sichtbar wie auf einer Panoramakarte, man wäre frühzeitig im Bilde und könnte sich alles ordentlich anschauen. Beim jetzigen System wußte man nie was kam, man mußte abwarten, was sich am Horizont ergab, und ehe man es richtig sah, war es schon wieder vorbei, spurlos verschwunden; in einer Kugel hätte man es lange betrachten können.” Der Forte-Leser weiß, dass das kein zufälliges Bild ist. Die väterliche, aus Italien stammende Verwandtschaft war schon immer von Landkarten und Globen fasziniert. während die polnische Verwandtschaft der Mutter einfach so vor sich hin lebte. Ihre Stärke war die Kraft, das Schicksal anzunehmen und jeden Toten als Perle in den Rosenkranz der Familiengeschichte aufzunehmen.
In Waschmittelschaum gehüllt
Diese beiden Weltsichten hat Dieter Forte in seiner Familien-Trilogie eindrucksvoll zusammengeführt. Seine Romane „Das Muster”, „Der Junge mit den blutigen Schuhen” und „In der Erinnerung” verbinden die klare Struktur eines Nach- und Nebeneinanders mit dem lebendigen Erzählfluss mündlicher Tradition zu einem großen Epos. In den neunziger Jahren erschienen, hat es unser Wissen über das 20. Jahrhundert und seine Vorgeschichte literarisch erweitert. Im neuen Roman gelingt das nicht. Allzu sehr verlassen sich die zeithistorischen Passagen auf unser Vorwissen. Weil es nur abgerufen wird, gerät es zum Klischee: Dass aus allen Löchern die alten Nazis nach oben kriechen und dicke Zigarren rauchen, dass aus dem Schaum eines Waschmittels die neue deutsche Hausfrau in strahlender Reinheit wiedergeboren wird, dass keiner sich mehr für die Kriegsversehrten interessiert, dass damals Jazz, Literatur, Bildende Kunst, Philosophie eine größere Bedeutung hatten als heute.
Eindrücklich ist dieser Roman überall dort, wo er für die Angst des jungen Mannes Bilder unerträglicher Enge findet: die Lungenkrankheit als Unmöglichkeit, sich auszudehnen. Dass diese Angst durchaus auch als Signum der Epoche zu interpretieren wäre, hat der Autor übersehen. Das ist verständlich. Für ihn muss es naheliegender gewesen sein, das Missbehagen seines jugendlichen Alter Ego mit den Aufstiegssehnsüchten im Nachkriegsdeutschland zu kontrastieren. Für alles andere wäre der Blick von heute auf das „Damals” nötig gewesen. Ihn wollte der Autor nicht werfen. Wie durch einen Zeittunnel hat er sich tief in seine Angst versenkt. So konnte er nicht sehen, was für den Leser auf der Hand liegt.
„Auf der anderen Seite der Welt” ist ein Abschied von den Eltern. Die Welt, die Forte in seiner Trilogie beschworen hat, gibt es nicht mehr. Seine Adoleszenzkrise ist die der gegenwärtigen Welt: des von atemabschnürender Isolation bedrohten Individuums. Dass mit der Debatte um den inzwischen zum Schlagwort gewordenen „Luftkrieg” auch die bisher zum Schweigen verurteilten Opfer der Täterseite Zeugnis von ihrem Leben ablegen können, ist begrüßenswert. Dennoch besteht die Gefahr der Musealisierung. Es ist notwendig, die Debatte zu öffnen und auch theoretisch zu diskutieren, was mit der Eroberung des Luftraums damals erst begonnen hat.
Die globalisierte Welt wird sich nie mehr in jenem anheimelnden Modell des Globus fassen lassen, das man heute noch gern in Schülermäppchen steckt und das der Autor am Ende seines Romans als Sinnbild seines Schreibens beschwört: „Sein Großvater vermachte ihm (...) einen winzigen Globus, der versteckt in der Hand lag und einen Bleistiftspitzer enthielt, mit Fleiß zu benutzen, um alles in einem unaufhörlichen phantasievollen Schreiben zu verbinden und zu berichten. Diese buntgescheckte Kugel, die man in die Hosentasche stecken konnte, mit der man durch die Welt spazieren konnte, wurde der Grundstein eines nie endenden Erzählens, durch das er überlebte.”
MEIKE FESSMANN
DIETER FORTE: Auf der anderen Seite der Welt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 343 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Forte ist ein Erzähler von ganz großem Format. Elke Heidenreich Es ist bestechend, wie Forte es vermocht hat, die in seiner Familie lange lebendig gebliebene mündliche Erzähltradition literarisch fruchtbar zu machen. Der Spiegel

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Brillant geschrieben und tief bewegend findet Rezensent Friedmar Apel diesen Roman, den er als sezierenden Blick eines lungenkranken Schriftstellers auf die Zeit des Wirtschaftswunders gelesen hat. Radikaler und zugleich kunstvoller denn je beziehe Dieter Forte mit der Figur seines Protagonisten die Position eines grundsätzlichen Widerstands gegen das in Deutschland Gewordene und Bestehende. Als Schauplatz nennt Apel ein Lungensanatorium auf einer Nordseeinsel, dass dem Helden des Romans zum Ort wird, in dem sich Geschichten und Geschichte verknüpfen. Im Reflex seiner Wahrnehmung erscheine Fortes Erzähler das Nachkriegsdeutschland wie eine andere, abgründige Wirklichkeit. Er betrauere die vertane Chance zu echter Freiheit und einer Gesellschaft jenseits der Egoismen. Im Blick des Mannes entzaubert sich für Apel das Wirtschaftswunder. "Nach den Todesmärschen kam der Jazz", fasst er eine Beschreibung aus dem Roman zusammen. Die deutsche Nachkriegswirklichkeit erscheint ihm in Fortes Schilderung als unwahr und falsch. Erzählerische Form findet er im Fortgang des erinnernden Erzählung zum Kommentar aufgelöst.

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