Marktplatzangebote
16 Angebote ab € 2,05 €
  • Gebundenes Buch

J.C., ehemals bekannter Autor aus Südafrika, jetzt in Sydney lebend, ist die Hauptfigur in Tagebuch eines schlimmen Jahres , dem neuen Roman von John Coetzee, Literaturnobelpreisträger aus Südafrika, heute in Adelaide lebend. J.C. schreibt bittere Kurzessays über den gegenwärtigen Zustand der Welt als Beiträge für einen Sammelband; Anya, seine Bekanntschaft aus der Waschküche, tippt sie für ihn in den PC; Alan, ihr Freund, ein schlitzohriger kleiner Broker, denkt über einen Zinsbetrug an J.C. nach. Mehrere parallel laufende Handlungsstränge bilden ein kühnes Erzählkonstrukt um J.C. auf dem…mehr

Produktbeschreibung
J.C., ehemals bekannter Autor aus Südafrika, jetzt in Sydney lebend, ist die Hauptfigur in Tagebuch eines schlimmen Jahres , dem neuen Roman von John Coetzee, Literaturnobelpreisträger aus Südafrika, heute in Adelaide lebend. J.C. schreibt bittere Kurzessays über den gegenwärtigen Zustand der Welt als Beiträge für einen Sammelband; Anya, seine Bekanntschaft aus der Waschküche, tippt sie für ihn in den PC; Alan, ihr Freund, ein schlitzohriger kleiner Broker, denkt über einen Zinsbetrug an J.C. nach. Mehrere parallel laufende Handlungsstränge bilden ein kühnes Erzählkonstrukt um J.C. auf dem scharfen Grat zwischen Distanzierung und unerbittlicher Selbstbetrachtung. Coetzees Blick aus nächster Nähe ist atemberaubend.
Autorenporträt
J. M. Coetzee, geb. 1940 in Kapstadt, lehrte von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt und gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize. 22003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Reinhild Böhnke, geb. 1944 in Bautzen, ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1988 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, weiter hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Rebecca Miller, Nuruddin Farah, D. H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2008

Der auferstandene Roman
John M. Coetzees „Tagebuch eines schlimmen Jahres”
Also doch. Es ist also doch genau so, wie es der Katechismus der Moderne uns immer gepredigt hat: Nur wer das konventionelle Erzählen hinter sich lässt, schenkt dem Leser neue ästhetische Erfahrungen. J. M. Coetzees „Tagebuch eines schlimmen Jahres” ist ein solches Buch. Es hat den Roman auseinandergenommen bis auf sein Skelett, alles, was an ihm romantisch oder romanhaft ist, wie überflüssiges Fett weggeschnitten und die Gattung auf Diät gesetzt: Was einmal ein vor Figuren, Psychologie, Gefühlen, Leidenschaften, rasantem Plot, unerwarteten Wendungen und Schicksalsschlägen strotzendes Schlachtengemälde des prallen Lebens war, wird von dem Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee abgespeckt auf die Fastenkost einer Reihe von Essays eines alten Mannes, J. C., der in Sydney lebt. „Lassen wir”, scheint dieses Buch zu sagen, „das Leben mit seinem ganzen Kostümplunder weg, bleiben wir gleich ohne narrative Umwege und Umstände bei den muskulösen Gedanken selbst. Schließlich sollten auch belletristische Werke auf ihren Body-Fat-Index achten.”
Die vitalen Kellerkinder
Aber weil alles, was verdrängt wird, aus dem Keller des Unbewussten wieder nach oben sich kämpft, führt das „Tagebuch eines schlimmen Jahres” zugleich die Wiederkehr des Romans vor. Auf den Buchseiten förmlich von unten kommend wie ein Underdog, erobert sich das Romanhafte erneut seinen Platz, und während oben die Reflexionsprosa läuft, melden sich unten die Leidenschaften zu Wort. Der Roman ist nicht tot zu kriegen. Weil eben in allem, was wir denken, immer schon ein ganzer Roman nistet. Der Roman ist tot, es lebe der Roman.
Wie sieht das konkret aus? J. M. Coetzees „Tagebuch eines schlimmen Jahres” befreit die Buchseite aus ihrer bloßen Linearität und zieht neue Ebenen ein, so dass man das Ganze lesen muss wie eine Partitur. Das Buch verfügt über drei verschiedene Stimmen, die synchron oder zumindest graphisch parallel nebeneinander herlaufen: Auf jeder Seite gibt es drei, durch eine Linie von einander getrennte Stimmebenen. In der Oberstimme „läuft” die Essay-Melodie, in der Mittelstimme erzählt der Verfasser dieser Essays, J. C., von seiner sehr gut aussehenden Nachbarin Anya, die er als Schreibkraft angeheuert hat, um seine mit der Hand geschriebenen „Ansichten” zu transkribieren. Die Unterstimme gehört eben dieser Anya selbst, die darin als basso continuo von ihren Erlebnissen mit „Senor C.” berichtet – wie sie den Schriftsteller, der von ihrer Oberweite so beeindruckt ist, nennt. Auch die Streitereien mit ihrem Freund Alan, einem Börsenmakler, fließen hier ein.
Der Leser muss sich also eine ganz neue Lektürepraxis zulegen, indem er den Lesefluss zum Beispiel des Essays unterbricht, um aufzufassen, was die Mittel- und die Unterstimme auf der nämlichen Seite zu sagen haben. Hat er schließlich alle drei Stimmen einer Seite gelesen, versucht er so etwas wie ihren Zusammenklang in seinem Gedächtnis aufzurufen, ehe er die Seite umschlägt und wiederum erst die Fortsetzung des Essays, dann J. C.s Anya-Beschreibungen und schließlich Anyas eigene Einmischungen zu lesen. (Natürlich schummelt man auch oft und liest, um sich den Lesefluss nicht ständig zerhacken zu lassen, erst die eine Stimme über mehrere Seiten, ehe man zurückblättert und die anderen Stimmen nachholt.)
Ein berühmter, seiner Herkunft nach südafrikanischer Schriftsteller im Alter von 72 Jahren soll also für einen deutschen Verlag ein Buch schreiben mit seinen „Ansichten” zu Gott und der Welt. So entstehen scharfsinnige und originelle Essays zum Beispiel „Über den Ursprung des Staates” oder „Über Pädophilie”. Weil aber auch jeder noch so reflexive Text einen Autor (mit einem Leben) hat, der ihn verfasst, taucht eben dieser Autor in der Mittelstimme als ein Mensch auf, der eine hübsche Nachbarin anstellt, weil er gerne noch einmal weibliche Sinnlichkeit um sich haben möchte. Diese Schreibkraft aber ist auch ein Mensch mit eigener Stimme und Geschichte – und Mitteilungsdrang. So boxt sie sich in der Partitur von unten, wo die Geschlechtsorgane liegen, nach oben, durch das Herz des Autors, in dem Todesangst schwelt, hin zum Kopf, wo die klugen Reflexionen herkommen. Es entsteht eine Partitur aus drei Stimmen, die dann doch wieder all das bietet, was Freunde des Romans an dieser Gattung schätzen.
Über Coetzees „Tagebuch eines schlimmen Jahres” hängt ein erzählerisches Bilderverbot. In dem Essay „Über das Leben als Schriftsteller” schreibt C.: „Ich war nie besonders gut im Beschwören der Realität, und ich habe heute noch weniger Neigung dazu. Die Wahrheit ist, ich habe nie viel Freude an der sichtbaren Welt gehabt, ich spüre keinen sehr starken Drang, sie in Worten nachzuschaffen.” Aber wie stets im Puritanismus gedeiht die Sünde dann eben im Verborgenen, unterhalb der Gürtellinie, wo der alte Plot-Kitsch und Weltvergegenwärtigungs-Zauber munter weiter wuchert und sich zu einer regelrechten Dreiecksgeschichte mit Rivalitätskampf ausweitet, bei dem es um Titten, Geltungssucht, Missgunst und Vorurteile geht – aber auch um Rührung, Sentiment, Schmerz und Happy End.
Anya wurde von C. aus sehr äußerlichen Gründen engagiert. Sie weiß das und kann damit leben, denn sie ist eine Frau, die gerne mit ihren Kurven wuchert („Wozu ist der Hintern sonst da? Nutze, was du hast”). Sie weiß auch, dass der berühmte C. sie für ein hübsches Dummerchen hält – das ist sie aber nur zum Teil. Jedenfalls nimmt sie mehr und mehr leidenschaftlich Anteil an dem, was C. in seinen Essays an Gedanken entwickelt. Manchmal widerspricht sie, generell aber ist es ihr Bemühen, J. C. zu einem Genrewechsel zu bewegen. Würde er von seinem amourösen Vorleben erzählen, hätte er doch gleich viel mehr Leser. Ihren Vorschlag, etwas über die herrischen Elstern im Park zu schreiben, greift C. dann tatsächlich im zweiten Teil seiner „milden Ansichten” „Über die Vögel der Luft” auf.
Anyas Freund Alan ist ein Emporkömmling. Im Waisenhaus aufgewachsen, hat er sich zu einem erfolgreichen Börsianer durchgebissen. Er ist schlau, aber seine Minderwertigkeitskomplexe beherrschen ihn. Er verachtet C. als Intellektuellen, weil er sich von ihm nicht respektiert wähnt. Alan spioniert C. nach und will ihm gerne übel mitspielen. Am Ende kommt es gar zu einem klassischen Show down. C. lädt das junge Paar (wir erfahren dies im Gegenschnitt aus der Mittel- und der Unterstimme, während die Oberstimme wunderbare Gedanken zur Größe Tolstois spinnt) zum Abendessen ein. Alan trinkt zu viel Shiraz und macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, sondern kippt Kübel von Häme, Verachtung und Ressentiment über seinen Gastgeber. Anya erkennt nun endgültig, dass sie mit diesem Menschen nicht länger zusammen sein will. Sie verlässt Alan, zieht in die Provinz und träumt davon, dem alten, einsamen Schriftsteller auf dem Sterbebett zur Seite stehen zu können und ihm die Hand zu halten, wenn dieser das Tor in die andere Welt durchschreitet.
Allein eine solche Szene wäre in jedem herkömmlich erzählten Roman unmöglich – bei Coetzee aber hatte das Sentiment so unwahrscheinliche Startbedingungen und einen so langen und steinigen Weg, dass es sich diesen schönen roten Sonnenuntergang am Ende wirklich verdient hat – und die Szene tatsächlich nicht wie Kitsch, sondern wie ein harter, gleichwohl anrührender Realismus erscheint.
In dieser Szene ertönt auch die Partitur als echter Zusammenklang, weil Anyas in der Unterstimme ausgeführter Wunsch, C. nicht alleine sterben zu lassen, respondiert auf C.s Todes-Einsamkeits-Reflexion aus der Oberstimme, die im Essay „Ein Traum” eine Todesvision evozierte: „Du klammerst dich an den Glauben, dass irgendein Mensch, irgendwo, dich genug liebt, um dich festzuhalten (wenn nämlich der Tod den Menschen in eine andere Welt hinüberzieht), um dich davor zu bewahren, weggerissen zu werden. Aber dieser Glaube trügt. Alle Liebe ist am Ende mäßig. Keiner wird mit dir kommen.”
Was flüstert da die Unterstimme?
Es ist dieser motivische Zusammenklang allerdings ein zeitlich versetzter. Tatsächlich sucht man meistens vergebens, wenn man nach direkten Korrespondenzen zwischen den drei Stimmen auf der selben Seite, im selben Takt fahndet. Ein synchroner thematischer Gleichklang der drei Stimmen findet nicht statt. Die Essay-Linie und die Kammerzofen-Perspektive bilden nie einen Gleichklang, allenfalls reiben sie sich aneinander oder stehen in einer Beziehung eklatanter Ignoranz oder auffallender Beziehungslosigkeit zueinander. Der Geist ist zwar eingebettet in einen körperlichen Alltag, aber autonom. Manchmal wollen die beiden Sphären nicht zueinander passen und dann quietscht es (und dieses Quietschen zeugt von der schwierigen Lebensform des Moralisten). Beide Sphären prozessieren, aber beide autonom nach ihrem jeweiligen Programm.
Es gibt auch merkwürdige Modulationen, wenn etwa plötzlich die Mittelstimme direkte Rede von Anya wiedergibt. Was ist denn dann deren Status? Offensichtlich zitiert C. seine Schreibkraft in direkter Rede. Es ist nicht die gleiche Stimme wie die Unterstimme, die Anya gewissermaßen als Autor ganz gehört. Was verändert sich an Anyas Stimme, wenn sie als wörtliche Rede in die Mittelstimme moduliert wird?
Man mag dem Buch vorwerfen, dass es solche Fragen aufwirft, ohne darauf eine Antwort zu geben. Ja, so muss der Rezensent gestehen, vermutlich ändert sich nichts – außer dass man sich immerzu fragt, ob sich nicht doch etwas dadurch verändert. Man könnte sagen: Das ist, für diesen ganzen formalen Aufwand, zu wenig. Es ist aber in Wahrheit das Äußerste, was kluge Bücher zu leisten vermögen.IJOMA MANGOLD
J: M: COETZEE: Tagebuch eines schlimmen Jahres. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008. 236 S., 19,90 Euro.
Doch ein Romanautor: J. M. Coetzee Foto: Rex Features Ltd./action press
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2008

Mit Moral auf Hinternjagd

Geld oder Leben: J.M. Coetzees "Tagebuch eines schlimmen Jahres" zeigt einen sterbenskranken Gerechtigkeitskämpfer - und wie ihm die Welt davongeeilt ist.

Wie kann man in Zeiten des postmodernen Zweifels noch Gesellschaftskritik üben, ohne sofort in den Verdacht naiver Ideologienostalgie zu geraten? Das ist die Grundfrage, auf die das neue Buch des Nobelpreisträgers John M. Coetzee eine Antwort zu geben versucht. Denn die Hauptfigur im "Tagebuch eines schlimmen Jahres" ("Diary of a Bad Year") ist ein alter, kranker, gebildeter und sehr zorniger Mann. "J. C." heißt dieser Ich-Erzähler, zweiundsiebzig Jahre alt, schwer von einer Parkinson-Erkrankung gezeichnet und wie sein Schöpfer Schriftsteller mit Wohnsitz in Australien. Vieles bekümmert J. C. angesichts der globalisierten Gegenwartsgesellschaft: die australische Asylpolitik, der Irak-Krieg, die Grausamkeit heutiger Massentierhaltung, die westliche Hysterie angesichts des islamistischen Terrorismus. Und vor allem: die "Schande" des amerikanischen Folterlagers Guantánamo Bay. Da kommt es dem alten Schriftsteller gerade recht, dass ausgerechnet ein deutscher Verlag einen Sammelband mit seinen Essays veröffentlichen möchte - zur Frage, "woran die Welt krankt". Also schreibt sich Coetzees sechs Jahre älteres FastAlter-Ego die Wut über die "antihumane Wendung" zu einem neuen Hobbes'schen Naturzustand von der Seele.

Den düsteren Diagnosen von J. C., die unter dem Titel "Feste Ansichten" auf den Zeitraum zwischen dem 12. September 2005 und dem 31. Mai 2006 datiert sind, stellt Coetzee zwei weitere, das Lamento brechende Erzählperspektiven entgegen. Zufällig nämlich begegnet J. C. gleich zu Anfang des Romans einer jungen, auffallend hübschen Nachbarin in der hauseigenen Waschküche. Vor allem der "himmlische Hintern" der knapp dreißigjährigen Anya hat es ihm angetan. Der alte Mann ist auf einen Schlag erotisiert und engagiert die Filipina, die mit ihrem Freund ein paar Stockwerke höher wohnt, zum Dreifachen des üblichen Honorars als Schreibkraft. Das erfährt der Leser nicht auf der offiziellen Erzählebene der Essays, sondern - darunter abgedruckt - in einem inneren Monolog des Schriftstellers.

Hinzu kommt, am unteren Ende der Seite, eine dritte Erzählebene: Anyas private Sicht auf "Señor C", wie die Sekretärin ihren neuen Chef bald heimlich nennt. Eine Geschichte, drei Stimmen, der Text als "Split Screen": Das ist eine simple Idee mit allerdings großem Effekt, denn so treffen die politischen Thesen von J. C. sofort auf Gegenargumente durch Anya und ihren Freund Alan, einen Investmentbanker. Darüber hinaus geben die zwei zusätzlichen Perspektiven Coetzee Gelegenheit, wie schon in seinen Vorgängerromanen "Elisabeth Costello" und "Zeitlupe" ("Slow Man") den Produktionsprozess des Schreibens selbst zum Thema zu machen und den Mythos, wonach ein Autor angeblich allein am Text schreibt, einmal mehr genussvoll zu demontieren.

Anya nämlich missbilligt, angestachelt von Alan, den besserwisserischen Klageton der Aufsätze, die sie abtippen muss. Freimütig rät sie ihrem Chef: "Schreiben Sie doch über Kricket. Schreiben Sie Ihre Memoiren. Über was Sie wollen, nur nicht über Politik. Ihre Art zu schreiben und Politik - das passt nicht zusammen." Und auch wenn J. C. keine Miene bei diesen Vorschlägen verzieht, zeigt er sich doch höchst beeinflussbar durch seine Sekretärin. Zumindest folgen auf seine "Festen Ansichten" prompt mildere, melancholischere und persönlichere Aufzeichnungen in einem zweiten Tagebuch, die assoziativ von Kricket, Liebe im Alter, Träumen, Musik, Literatur und schließlich vom Sterben handeln.

Was als harmlose Altherrenphantasie beginnt, avanciert zum Wettstreit der Lebensphilosophien. Dass die Zuneigung zu einer jüngeren Frau zum Auslöser einer Identitätskrise wird, kennt man auch schon aus Coetzees berühmtestem Roman "Schande" ("Disgrace"). Im "Tagebuch eines schlimmen Jahres" steigert sich die persönliche Krise nun zum geradezu faustischen Zweikampf um Anyas Seele, weil hier mit Alan ein Gegenspieler auftritt, der als rein ökonomisch denkender Geschäftsmann die Unmoral in Reinkultur vertritt.

Alan, aufgewachsen in einem Waisenhaus, glaubt weder an eine Verantwortung noch an eine Autonomie des Subjekts, sondern begreift das Weltgeschehen lediglich als Markt von Angebot und Nachfrage. "Was Señor C nicht sehen kann oder will", erklärt er Anya einmal, "ist, dass Individuen Spieler in einer Struktur sind, die über individuelle Motive hinausgeht, die über Gut und Böse hinausgeht." Der soziale Gerechtigkeit fordernde J.C. ist für den zweiundvierzigjährigen Anlageberater folglich nur ein "Fossil aus den Sechzigern", auf das er umso hasserfüllter reagiert, je bereitwilliger sich seine Freundin um den immer gebrechlicher werdenden Autor kümmert. Alan verhöhnt J. C. als "Guru" und zapft seinen Computer an. Bei einem Abendessen zu dritt kommt es schließlich zum Eklat.

In der Holzschnittartigkeit der Figur Alans, das skrupellose Wettbewerbsprinzip verkörpernd, liegt allerdings das Problem des ansonsten sehr kunstvoll gebauten Romans. Die wahren Barbaren, daran lässt Coetzee in seinem neuen Buch keinen Zweifel, lauern weniger außerhalb als innerhalb des Systems. Es sind Aufsteiger wie Alan, für die "Geld das Maß aller Dinge" ist. Zugegeben, keine ganz neue Botschaft, aber eine, die in ihrer zornigen Trauer über die gern totgeschwiegenen politischen Sündenfälle der westlichen Zivilgesellschaft manchem Leser aus dem Herzen sprechen dürfte.

GISA FUNCK.

J.M. Coetzee: "Tagebuch eines schlimmen Jahres". Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 235 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein skelettierter Roman? Ijoma Mangold kanns gar nicht glauben. Und siehe da, was ihm erst als Essaysammlung eines alternden Schriftstellers erscheint, entpuppt sich doch als "Wiederkehr" des Romans, immerhin. Dennoch muss Mangold einiges an Lesegewohnheiten über Bord werfen. J.M. Coetzees Bruch mit der Linearität der Buchseite stellt sich Mangold dar als eine Art Partitur, die erst einmal gelesen sein will. Drei Stimmen, die sich die Seite teilen und selten synchron, viel öfter autonom laufen. Als Oberstimme essayistisch, als Mittelstimme von der Beziehung des Schriftstellers zu seiner schönen Sekretärin erzählend und als Unterstimme jene Frau selbst, über ihren Chef plaudernd. Für die Lektüre hat Mangold kein Patentrezept parat. Er selbst liest schon mal nur eine Stimme über mehrere Seiten und blättert dann zurück, um die anderen Stimmen zu lesen. Oder er wechselt zwischen den Stimmen hin und her, um einem Zusammenklang nachzuspüren. Und wozu das alles? Um der Vielstimmigkeit des Romans willen und eines "harten Realismus", meint Mangold, und um der Frage, ob sich was ändert durch das Formexperiment. Eine Frage, die der Rezensent für das Äußerste hält, was kluge Literatur leisten kann.

© Perlentaucher Medien GmbH