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Die Wissenschaftsgeschichte der Genetik wirft nicht nur ethische Fragen auf, die den Umgang mit ihren Möglichkeiten und Techniken betreffen. Sie führt auch zu einschneidenden Veränderungen tradierter kultureller Konzepte. Diese aber sind bislang weitgehend im Schatten eines verfehlten Streites über 'Vererbung versus Erziehung' geblieben, in dem bekannte Angst- und Wunschbilder einer genetischen Determination oder Steuerung menschlicher Attribute und Verhaltensweisen zirkulieren. Weitgehend unreflektiert dagegen sind bislang jene Zäsuren geblieben, die die Praktiken von Gentechnologie und…mehr

Produktbeschreibung
Die Wissenschaftsgeschichte der Genetik wirft nicht nur ethische Fragen auf, die den Umgang mit ihren Möglichkeiten und Techniken betreffen. Sie führt auch zu einschneidenden Veränderungen tradierter kultureller Konzepte. Diese aber sind bislang weitgehend im Schatten eines verfehlten Streites über 'Vererbung versus Erziehung' geblieben, in dem bekannte Angst- und Wunschbilder einer genetischen Determination oder Steuerung menschlicher Attribute und Verhaltensweisen zirkulieren. Weitgehend unreflektiert dagegen sind bislang jene Zäsuren geblieben, die die Praktiken von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin für die 'elementaren Strukturen der Verwandtschaft' und für das tradierte genealogische Denken bedeuten.
Autorenporträt
Sigrid Weigel ist Professorin am Institut für Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin und Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2002

Holzfällen
Mit Sigrid Weigel am Baum
des Wissens sägen
Die Vorstellung von der Unverträglichkeit, ja von einem „Krieg” der „zwei Kulturen” der Wissenschaft ist in gegenwärtigen Debatten längst zum Gemeinplatz geworden. Einen Anstoß, diese Denkgewohnheit in Frage zu stellen, gibt der von Sigrid Weigel herausgegebene Band über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen „Genealogie und Genetik”, der auf eine Initiative des Potsdamer Einsteinforums zurückgeht. Wie Weigel in ihrem Vorwort schreibt, geht es den Beiträgern darum, „Schnittstellen” zwischen Natur- und Kulturwissenschaften ausfindig zu machen, und mit dem Thema „Genealogie” hat man dabei ein produktives Relais gefunden.
Der Band bringt Biologen und Kulturwissenschaftler ins Gespräch, und versteht sich zugleich als Probe auf die Dialogfähigkeit der beiden „Wissenskulturen”. Was die Vertreter ganz unterschiedlicher Disziplinen verbindet, ist die Frage, wie hoch der Anteil an Medialem und Symbolischem in einer Faktenwissenschaft wie der Biologie ist, und wie stark umgekehrt deren Wahrnehmung in der öffentlichen Diskussion durch Symbolisierungen, Bilder und Metaphern geprägt ist. Genealogie bietet sich da als „Schnittstelle” an, da sie zunächst biologische Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern zur Darstellung bringt. Zugleich lässt genealogisches Denken sich als Kulturtechnik begreifen, die es erlaubt, zeitliches Nacheinander als sachlichen Zusammenhang zu deuten, und die so eine Einheit zwischen Gegenwart und Vergangenheit stiftet.
Das wird deutlich, wenn man das wohl erfolgreichste Modell genealogischer Bildlichkeit, das Baumdiagramm, betrachtet. Dass Beziehungen zwischen Menschen oder Dingen bis heute mit Hilfe von „Wissensbäumen”, „Ahnentafeln” und „Stammbäumen” visualisiert werden, zeigt, dass es sich um eine schlagkräftige Metapher handelt, die es erlaubt, abstrakte Beziehungen ins Bild zu setzen. Wie Thomas Macho hervorhebt, leistet das Bild des Baums aber noch mehr. Die Analogie mit der Beziehung von Stamm und Ästen, Wurzel, Zweigen und Blattwerk macht abstrakte Verhältnisse der Ableitung, Abkunft und des Erbes anschaulich. Im Gegenzug belehnt das Bild aus dem Bereich des Organischen die symbolische Ordnung, die es veranschaulicht, aber auch mit der Autorität des Natürlichen.
Wen die Genetik geniert
Wie Reales und Symbolisches sich auf diese Weise wechselseitig mit Evidenz und Bedeutung belehnen, zeigt der Kunsthistoriker Kilian Heck an der Rolle von genealogischen „Bäumen” in der vormodernen Herrschaftsrepräsentation. Dass derartige Repräsentationen auch in der Moderne nicht an Bedeutung verloren haben, macht Claudia Castañeda deutlich. An den Aufzeichnungsverfahren in der Genetik kann sie zugleich zeigen, wie die „zwei Kulturen” in der Praxis ineinander greifen. So ist die Anlage von Stammbäumen zu wissenschaftlichen Zwecken seit dem 19. Jahrhundert zu einer „Alltagstechnologie” geworden.
Vielleicht erklärt diese Verstrickung des genetischen Wissens in Techniken der Aufzeichnungen und Symbolisierung auch, warum die Gentechnik die populäre Einbildungskraft so stark beschäftigt – und dies besonders, seit Reproduktionsmedizin und genetische Diagnostik die überkommenen „genealogischen” Modelle an ihre Grenzen zu treiben scheinen. Dass die Einbildungskraft dabei oft über die biologischen Fakten hinausschießt, hebt der Biologe Henri Atlan hervor. Das Unbehagen an der Genetik, wie es in Geschichten über Klone und deren ungeklärte Generationszugehörigkeit und Identität greifbar wird, scheint sich zu einem guten Teil an irreführenden Metaphern entzündet.
Wer sich Vererbung als Verdoppelung eines in den Genen enthaltenen „Codes” vorstellt, nimmt wörtlich, was eine Metapher aus dem Bereich der Informationstheorie ist. Atlan warnt vor einer Überschätzung des genetischen „Codes”. Dieser sei kein „Programm”, das die Reproduktion identischer Lebewesen vorgibt. Eher sei das genetische Erbe einem Satz von „Daten” zu vergleichen, deren Verarbeitung von einer Reihe äußerlicher Faktoren abhängt. Überhaupt erscheinen die „Biologen” in diesem Dialog mit den „Kulturwissenschaften” als konsequente Kulturalisten. Weniger das genetische „Erbe”, als die Einschreibung in symbolische Genealogien erscheint in der Mehrzahl der Beiträge als maßgeblicher Faktor für die Ausbildung von Identitäten.
Beruhigend klingt da die Auskunft von Charlie Davison, der aus der Sicht der Kulturanthropologie darauf hinweist, dass genealogische Systeme schon immer durchlässig für Sonderfälle gewesen sind – und dies wohl auch bleiben werden, sollten die Szenarien der Reproduktionsmediziner in absehbarer Zukunft Wirklichkeit werden. Von einem „Krieg” der zwei Wissenschaftskulturen kann daher im vorliegenden Band keine Rede sein. Das mag auch an der guten Abstimmung und der Gesprächsbereitschaft der Beiträger liegen, die sich erkennbar darum bemüht zeigen, „Genealogie” als „Schnittstelle” zu nutzen. Gewiss sind auch streitbarere Begegnungen zwischen den „zwei Kulturen” denkbar. Dass diese sich in der medialen und wissenschaftlichen Praxis schon längst überschneiden, macht der lesenswerte Band in jedem Fall klar.
CAROLINE
PROSS
SIGRID WEIGEL (Hrsg.): Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte. Akademie Verlag, Berlin 2002. 308 Seiten, 27,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das Potsdamer Einsteinforum, schreibt Caroline Pross, hat in diesem Band Biologen und Kulturwissenschaftler miteinander in einen Dialog gebracht. Und das Gespräch dreht sich um Genealogie, weil man sich über die Symbolisierungen, Metaphern und Bilder der öffentlichen Diskussion verständigen wollte, wozu der "Stammbaum", also die Repräsentation der (auch genetischen) Generationenfolge, sich besonders eignet. Dies wird, so die Rezensentin, auf kluge Weise von mehreren der Gesprächsteilnehmer wie Thomas Macho, Kilian Heck und Claudia Castaneda verdeutlicht. Interessant findet Pross, dass sich besonders die Biologen, darunter Henri Altan, als "konsequente Kulturalisten" entpuppen. Ihre Beiträge zeigen, dass es nicht unbedingt einen "Krieg zwischen den zwei Kulturen" geben muss. Diese Einsicht ist nicht nur der Gesprächsbereitschaft derer geschuldet, die hier zu Worte kommen, sondern auch der "beruhigenden" Feststellung der Naturwissenschaftler, das Entscheidende für die Identität eines Individuums sei allemal noch seine "Einschreibung in symbolische Genealogien". Klärend und lesenswert, urteilt die Rezensentin.

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