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Seit dem Aufkommen des Fortschrittsgedankens gilt Bewegung als positiver Wert. Stagnation, egal ob in technischer, politischer oder ökonomischer Hinsicht, wird in der Dynamik des Industriezeitalters zu einem Übel an sich, einer Vorform des Verfalls. Paradoxerweise aber kommen weder Wissenschaften noch gesellschaftliche Prozesse, weder Maschinen noch technische Medien ohne inhärente Momente des Stillstellens, Sperrens oder Festschreibens aus. Bestimmte Dynamiken sind nur möglich durch ein zuvor erfolgtes Anhalten und Herstellen von Beobachtbarkeit.
In der Gewässerkunde nennt man eingelagerte
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Produktbeschreibung
Seit dem Aufkommen des Fortschrittsgedankens gilt Bewegung als positiver Wert. Stagnation, egal ob in technischer, politischer oder ökonomischer Hinsicht, wird in der Dynamik des Industriezeitalters zu einem Übel an sich, einer Vorform des Verfalls. Paradoxerweise aber kommen weder Wissenschaften noch gesellschaftliche Prozesse, weder Maschinen noch technische Medien ohne inhärente Momente des Stillstellens, Sperrens oder Festschreibens aus. Bestimmte Dynamiken sind nur möglich durch ein zuvor erfolgtes Anhalten und Herstellen von Beobachtbarkeit.

In der Gewässerkunde nennt man eingelagerte Zonen des Stillstands innerhalb eines Flusses Kehrwasser. Sie gelten als besonders fischhaltig. Der Untersuchung dieser ertragreichen stehenden Gewässer des Stockenden und Stillgestellten, der Staubecken und Altwasser, widmet sich vorliegender Band. Er versammelt Essays aus Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaft, Philosophie und Limnologie, rhythmisiert durch künstlerische Arbeiten und kleinere Textformen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2008

Kein Fluss ohne Stauung
Lob der Stagnation: Ein Buch versenkt sich in stehende Gewässer
Stehende Gewässer haben einen schlechten Ruf. Sie assoziieren mangelnde Zirkulation, Luftarmut und Fäulnis. Auch im Raum der Metapher, in dem sich unser Denken ständig bewegt, gilt das stehende Gewässer weniger als sein dynamischer Bruder, der Fluss. Dass alles fließt, ist bekanntermaßen einer der ersten Sätze der abendländischen Philosophie, und noch heute sind Stauung und Stagnation Chiffren des wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder kulturellen Niedergangs.
Eine Rehabilitierung versucht der Sammelband „Stehende Gewässer. Medien der Stagnation”. Dabei geht es freilich nicht um den Schutz des heimischen Süßgewässers. Sondern darum, eine Denkfigur aufzuwerten, also etwa zu zeigen, dass die Stauung von Wasser erst den Ursprung von Frühkulturen wie Ägypten und Mesopotamien ermöglicht hat oder die Entstehung eines Staatswesens im alten China.
Allerdings werden Stagnation und Fließen nicht gegenübergestellt, sondern die wechselseitigen Verschränkungen aufgezeigt. In so verschiedenen Disziplinen wie Philosophie, Thermodynamik oder Museologie erweist sich ebenso wie in Literatur oder Alltagskultur, dass die Vorstellung vom Fließen oft nicht einmal ohne Stauung gedacht werden kann. Paradigmatisch dafür – darauf weist das schöne Vorwort hin – ist die Zeit, die nur ablaufen kann, weil sie ein „kontinuierliches Geschehen in diskrete Schritte” unterteilt; „Zeit” ist etymologisch mit „Teilen” verwandt. Heraklit einschränkend heißt es darum: „Alles fließt, aber nur, weil etwas steht”.
Der deutsche Idealismus, so zeigt Stephan Gregorys Beitrag, habe sich etwa vor der Aufgabe gesehen, den „bewusstlosen Bewusstseinsstrom” zu unterbrechen, den Empirismus und Sensualismus hinterlassen hatten. Das Fließen der Wahrnehmungen – so überlegte Fichte – muss überhaupt erst in eine Stauung geleitet werden, in der sich so etwas wie das Ich, das Bewusstsein einnisten kann. Dies geschieht in der Reflektion, also im Denken. Ähnlich befand Walter Benjamin, dass zum Denken „nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern auch ihre Stillstellung” gehöre. Erst das stehende Gewässer, resümiert Gregory, ist ein „verstehendes Gewässer”. Der Existentialismus Kierkegaards und Heideggers wiederum, daran erinnern Helga Lutz und Annika Reich, sieht in der Langeweile, die ja eine Zeit-Stauung ist, die Möglichkeit einer Öffnung auf das eigene Dasein.
Dass die Geschichte ein homogener Fluss der Ereignisse sei, kritisierte der New Historicism bereits in den achtziger Jahren. Von hier zieht Marcus Sandl eine Linie zurück zur katholischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die ein Versuch gewesen sei, „die Vergangenheit vor der Geschichte zu retten”. Denn sie betrachtet ihren eher statischen Gegenstand, das Mittelalter, vor allem in Hinblick auf gleichbleibende Institutionen wie die Kirche und das Heilige Römische Reich. Erst die Reformation und mit ihr die protestantische Auffassung von Geschichte bringen die Kategorien Ereignis und Bewegung auf.
Als geschlossenes Ökosystem, das sich selbst im Gleichgewicht hält, dient das stehende Gewässer schließlich gar als Vorbild politischer Utopien. Claus Pias zeigt künstliche Ökosysteme wie etwa die „Biosphere 2”, eine „geschlossene, lebensfähige Welt für acht Menschen”, die als Gegenentwurf zu unserer Kultur der Ausbeutung gedacht war. Es hat eine sonderbare Ironie, dass die „Biosphere 2” ausgerechnet an übermäßigen Kohlendioxid-Emissionenen, Artensterben und Ungeziefer zu Grunde ging.
Daneben gibt es eine Vielzahl weitschweifiger, aber aufschlussreicher Beiträge. Alexander Klose liefert eine Ikonographie des Todes in der Badewanne, wozu er das bekannte Pressefoto von Uwe Barschel mit Jacques-Louis Davids Gemälde „Der Tod des Marat” vergleicht. Helga Lutz denkt über die „Trockenlegung der DDR” nach. Und Isabel Kranz erzählt eine kleine Geschichte des Heimaquariums.
Der Band „Stehende Gewässer” ist ein Baustein zu einer großen „Metaphorologie” im Sinne des Philosophen Hans Blumenberg. Möge dieses Buch, das von einer der wichtigen Denkfiguren des Abendlandes handelt, über die Ladentische fließen und sich in den Bücherregalen stauen. JEAN-MICHEL BERG
BUTIS BUTIS (Hrsg.): Stehende Gewässer. Medien der Stagnation. Diaphanes, Zürich/Berlin 2007. 320 S., 29,90 Euro.
Stehende Gewässer sind gar nicht so schlecht. Das finden auch die Moorfrösche im Tümpel. Foto: ddp
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Von wegen "alles fließt". Jean-Michel Berg weiß es besser, seit er diesen von Butis Butis herausgegebenen Sammelband gelesen hat. Als Teil einer Metapherologie "im Sinne Hans Blumenbergs" sieht er die Gesamtheit der Beiträge zur Aufwertung der Denkfigur des "stehenden Gewässers". Ob der erkenntnistheoretische Aspekt eines "verstehenden Gewässers" herausgearbeitet oder eine "Ikonographie des Todes in der Badewanne" (Barschel) geschrieben wird - Berg erscheint es allemal aufschlussreich.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Um 'sich ereignen' zu können, brauchen Prozesse ein Medium. Mit dem vorliegenden Band ist es den AutorInnen gelungen, ihre Beiträge kaleidoskopartig im fruchtbaren Kehrwasser unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu verorten. Diskussionen über 'zu wenig Tiefe' oder 'zu viel Oberfläche', wie sie insbesondere bei interdisziplinären Themenstellungen gepflegt werden, entkräftet dieser Band schon im Titel Stehende Gewässer. - Sie sind zu den Oberflächengewässern zu zählen, doch ist es wert, das Plankton zu entdecken.« Barbara Eichinger, rezens.tfm