Schnitzler wenig zu tun hat), sie scheinen überhaupt nur im Unglück eine reale Lebensform zu sehen. Sie schlagen sich mit der Welt herum, in erster Linie mit den Männern natürlich, die weggelaufen sind und denen nachgetrauert wird, die verheiratet, aber gnadenlos begehrenswert sind, die jahrelang abwesend waren und plötzlich wie aus dem Nichts wiederauftauchen. Nur Probleme mit den Männern, aber "lieb sind sie doch", und ohne sie hätte Steinunn Sigurdardóttir nichts zu schreiben, und wir folgen, anfangs etwas zögernd und tastend, dann verloren, ihren verrätselten Balladen der Trauer und der Heiterkeit, der Ironie, die größtenteils Selbstironie ist, der labyrinthischen Wege der einen Liebe, die man im Leben hat, verführt von Steinunn, dieser Loreley der unglücklichen Sehnsucht. Mit Frauen schlagen sich ihre Frauen aber auch herum, weniger mit Nebenbuhlerinnen als mit nah verwandten: mit Müttern und Töchtern. Die Mütter mischen sich in alles ein, manchmal auch dann noch, wenn sie schon tot sind. Und mit den Töchtern ist es auch nichts als Mühe und Arbeit gewesen.
In "Sonnenscheinpferd", dem neuen Roman, der rund um die dominierende Hallgrimskirche in Reykjavík spielt, finden wir die gleichen Konstellationen vor und doch entscheidend anders. Hier ist das Problem, dass sich die Mutter in gar nichts einmischt. Und dass die Tochter sich selbst Mühe und Arbeit machen muss. Sie heißt Lilla, eine Krankenschwester, sie ist die Ich-Erzählerin. Sie hat einen kleineren Bruder, Mummi. Die Eltern sind auch da und sind eigentlich doch nicht da, sie heißen Ragnhild und Harald und sind beide Ärzte, Ragnhild ist Kinderärztin. Sie haben die eigenen Kinder spät bekommen, aber es ist, als hätten sie gar keine. Sie leben nämlich total in ihrer eigenen Welt. Von ihren Kindern werden sie liebevoll "das Ehepaar" genannt oder beim Vornamen gerufen, denn Papa und Mama nennen sich die Eltern schon gegenseitig. Außerdem sind sie "extrem geistesabwesend" und stets auf der Suche nach irgendwelchen Dingen. Wenn Ragnhild nicht gerade sucht, raucht sie und liest Gedichte, weil sie ihre Kinder also schlicht ignoriert, leben diese ihr schon früh eigenverantwortliches Leben, spätestens nachdem die deutsche Haushälterin Magda das Haus verlassen hat, man weiß nicht recht, warum; es kann aber sein, dass ich den Grund auch nur überlesen habe, denn es gehört zu Sigurdardóttirs Eigenarten, dass sie nicht unwichtige Informationen so en passant fallenlässt, irgendwann und irgendwo, dass man sehr aufmerksam lesen muss; Steinunn Sigurdardóttir hat lange gefeilt und konstruiert, damit die Geschichte sehr raffiniert, verschlungen und rätselhaft wurde. Die gute Magda also hatte so etwas wie Wärme ins Haus gebracht, vor allem hatte sie dafür gesorgt, dass der Laden lief. Jetzt muss Lilla mit ihren sieben Jahren das alles allein stemmen und sich ums Brüderchen kümmern. Sich selbst überlassen spielen die beiden auf dem Dachboden merkwürdige Spiele, Hinrichtungen im elektrischen Schaukelstuhl zum Beispiel oder Herzoperationen, die so verlaufen: "Soll ich dir dein Mistherz rausschneiden, du armes kleines Luder? - Was kommt stattdessen rein? - Gesäuerte Blutwurst im Herzbeutel. - Na gut."
Die Eltern stehen ihnen in nichts nach, sie halten spiritistische Sitzungen ab, immer wenn der Mutter einer ihrer kleinen Patienten weggestorben ist. Das passiert nun mal, es ist "unausweichlich", mit diesem Wort versucht der Vater die Mutter zu trösten, manchmal nutzt eben auch der "Beistand aus dem Jenseits" nicht, den Ragnhild als Kinderärztin erhalten muss, da sind sich alle sicher. Also in mancherlei Hinsicht erinnert diese isländische Familie wirklich an die Addams Family, es fehlen nur die abgeschnittenen Rosenblüten.
Die kleine starke Lilla, die zwar zwei Abende lang weint, weil sie nach Meinung der Milchfrau kein Sonnenscheinpferd ist (obwohl das nicht bös gemeint war), erträgt andererseits ihre Vernachlässigung mit verblüffender Bierruhe. Vielleicht weil sie sich vor allem auf Nelli stützen kann, eine bitterarme Alkoholikerin, die sich um sie sorgt, als wäre sie die eigene Tochter, die man ihr einst weggenommen hat. Bei Nelli bekommt sie eines Tages Pfannkuchen und heiße Schokolade, "obwohl niemand Geburtstag hat", und Nelli trägt ihr Sonntagskleid und sagt wie aus heiterem Himmel: "Es ist vorbei", und dann bittet sie Lilla, in den nächsten Tagen nicht zu kommen, sie sei sowieso nicht da. Da weiß man, dass sie mit dem Leben abgeschlossen hat, und wen diese Szene nicht rührt, der muss entweder sehr stur oder sehr zynisch sein. Gleich darauf (vielleicht aus Selbstschutz) folgt eine herrliche ironische Passage über die Qualen des "chronischen Liebesleids", mit denen sich "das Ehepaar" abgibt. Das ist schon meisterhaft. Die Meisterschaft besteht darin, dass die witzigen Passagen nicht zum Klamauk und die bewegenden Passagen nicht zum Kitsch werden; vielleicht kann man sie deswegen so aufeinanderprallen lassen.
Todtraurig ist das (und das Traurigste ist noch gar nicht erzählt), aber so schön zu lesen, dass man nicht aufhören möchte. "Alles was gut ist, ist flüchtig", heißt es am Ende. Lillas Leben ist im Grund total misslungen und nur "aus dem zusammengesetzt, was nie geschah". Der Schlüsselsatz in diesem Buch (und Sigurdardóttirs Werk) lautet: "Im Traum kommt man problemlos an sein Ziel." Wie tröstlich, wie illusionslos. Das Leben spielt sich in diesen Büchern nur im Kopf ab, wer es in der Wirklichkeit versucht, bei dem wird es zum Arrangement. Erkenntnisse, die daran etwas ändern könnten, kommen meist zu spät.
- Steinunn Sigurdardóttir: "Sonnenscheinpferd". Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008. 174 S., geb., 16,90 [Euro].
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