ernannt, der versoffene Buchhändler beginnt mit einer Neuübersetzung, und Papavík lebt fortan fürs Theater.
Steinunn Sigurdardóttir, eine der bekanntesten Autorinnen der Insel, läßt die Souffleuse erzählen. Wie es sich für ihre Arbeit gehört, agiert sie im Hintergrund, liefert aber entscheidende Stichworte und hat die Akteure fest im Blick. Deren Zusammenspiel macht den Witz des Romans aus. So kann sich der Regisseur schwer zwischen zwei plötzlich bühnenbegeisterten, rauflustigen Brüdern entscheiden, die sonst den lieben langen Tag auf dem Fußboden miteinander ringen, manchmal so selbstvergessen, daß der blinde Vater die Schafe füttern muß. In welchem von ihnen steckt die Gouvernante Sarlotta Iwanowna? Am meisten Kopfzerbrechen bereitet dem Vereinsvorstand aber die Besetzung der zartbesaiteten Kirschgartenbesitzerin Ljubow Andreewna Ranew- skaja. Dem Ideal des Regisseurs entspricht Ófeigur von Butterfeld. Er meistert die Übungen zur "Entsexualisierung" am besten: "Bitte sehr. Erhebt euch durch Flügelschlagen über traditionelle Denkmuster, bewegt euch zur Mitte der Geschlechtsskala hin, wo niemand Mann ist und niemand Frau, sondern jeder alles. Schwenken, Flügelschlagen."
Das langsame Einfügen in die Frauenrollen führt zu komischen Szenen und ernsten menschlichen Verwicklungen, wie überhaupt die Grenzen zwischen Männern und Frauen ins Fließen geraten. Unzählige Verbindungen schwanken in der kleinen Gemeinde. Viele Verhältnisse bleiben unausgesprochen, werden nur angedeutet, bevor sie sich lösen oder verändern, einige sind für Außenstehende rätselhaft. Darin erinnern sie an den großen Russen, für den hier gebaut und geprobt wird - allerdings mit robusteren Seelen und sprachlich sehr nahe am Alltag.
Das tägliche Leben ist im Roman von Steinunn Sigurdardóttir nicht nur vom Welttheater geprägt, sondern auch von der Natur, dem isländischen Zauber der Gletscher mit ihren Eiskappen und dunklen Zungen. Still ist diese Landschaft, weit, und oft geht ein sehr kalter Wind, gegen den die Schauspieler antrinken müssen. Während der Übersetzung, nach der Probe, vor dem Heimweg wird einander in der "Raubmöwenbar" zugeprostet. Der Alkohol spielt eine Rolle, komisch und ernst. Denn die Erzählerin leidet daran, Tochter einer Süchtigen zu sein. Die ferne Mutter in Reykjavík ist durchs Telefon und im Kopf der Souffleuse ständig anwesend. Die Frauen quälen sich mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. "In der Nacht weckte mich Mama. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Sie hörte sich so an, als wäre es schon der vierte oder fünfte Tag . . . Ach, Trísa, darf ich mich denn nie amüsieren? Muß ich mir ewig Vorhaltungen anhören? Mama lallt noch nicht, aber die Stimme verzerrte sich in Wellenbewegungen, breiten und schmalen, ich mußte genau hinhören, um mitzukriegen, was sie sagte. Ich schwieg so lange, bis sie fragte: Gehst du nicht total im Theater auf, wie läuft es?"
Wenn der flotte Erzählstil ins allzu Einfache zu kippen droht, nimmt der nächste Handlungsschwung den Leser schon mit auf den "Gletscherhorst", eine Hütte inmitten von Bergen und Birkenbüschen. Dort verzehrt sich der vor den Zudringlichkeiten der Theaterwelt geflohene Architekt in seinen Inspirationen. Er zieht die rauhe Einsamkeit der schauspielenden Gesellschaft vor, die noch immer um ihr "vereinheitlichtes Menschengeschlecht" ringt. Vor allem die siebenundachtzigjährige Besetzung des Dieners Firs arbeitet ohne Erfolg. In Betrachtung einer jungen Beleuchterin erleidet er einen peinlichen Männlichkeitsrückfall und ironisiert damit das in der skandinavischen Literatur momentan so beliebte gender crossing.
Über alldem waltet der Mäzen Vatnar Jökull. Er läßt kurzerhand aus dem ganzen Land Bäume heranschaffen, um einen immergrünen Garten anzulegen. Dieser wird zuletzt das Theater umstehen, das in seinen Grundfesten der isländischen Natur mit ihren Nordlichtern und Gletschern entspricht. Vor der Premiere des "Kirschgarten" wird es heftig von künstlichem Nebel umwallt. Steinunn Sigurdardóttir schätzt an Tschechow offenbar die große Undurchschaubarkeit des Seins. Einer stirbt, einer wird geboren, eine Maschine produziert Nebel - und keiner weiß warum.
SANDRA KERSCHBAUMER
Steinunn Sigurdardóttir: "Gletschertheater". Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 317 S., geb., 19,90 [Euro].
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