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StefanieFreigericht

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Insgesamt 90 Bewertungen
Bewertung vom 15.04.2019
Der Patriot
Engman, Pascal

Der Patriot


gut

„Sie wollen Feindseligkeit säen, damit wir aufeinander losgehen." S. 349

„Menschen mit abweichenden Ansichten werden als 'Schweine' oder 'Hunde' bezeichnet. Wissen Sie warum wir das tun?“
„Nein.“
Madeleine runzelte die Stirn.
„Um zu entmenschlichen“, fuhr Sandberg fort. „So erklären sich die Wissenschaftler, wie augenscheinlich mental gesunde deutsche Männer und Frauen als Aufseher in den KZs arbeiten konnten. … Die Opfer werden nicht als Menschen betrachtet, sie werden nicht bei ihrem Namen genannt, und es wird auch sonst alles getan, um sie nicht als gleichwertig anzusehen. Das ist ein unbewusster Prozess, ein Mechanismus, um sich vor Gewissensbissen zu schützen.“ S. 157
„Also, was Menschen dazu bringt, zum Terroristen zu werden, darüber gehen die Meinungen auseinander. … Aber der erste Schritt besteht darin, sich bedroht und seiner Freiheiten beraubt zu fühlen. Sei dies tatsächlich der Fall oder nur eingebildet. Im nächsten Schritt überzeugt man sich davon, dass diese Bedrohung der Freiheit ein von anderen geschaffenes Konstrukt ist, und folgert daraus, dass die Bedrohung aufhören kann. Die Situation ist also nicht zwangsläufig hoffnungslos. Und schließlich muss der Betreffende selbst glauben, dass Gewalt der einzige Weg ist, um an der Situation etwas zu ändern und der Bedrohung ein Ende zu machen.“ S. 158

In Stockholm werden nacheinander mehrere Journalisten ermordet, die positiv über die Integration von Flüchtlingen oder gegen Rechtsextreme geschrieben hatten. Doch bald werden diese Ereignisse in den Schatten gestellt von einem bestialischen Anschlag…

Mich nervt der Stil, im Wechsel zu den verschiedenen Protagonisten zu gehen: Madeleine, Journalistin in Stockholm, Carl, einer der Täter (ja, das wird gleich zu Beginn ausgesprochen), Ibrahim, Taxifahrer mit syrischen Wurzeln, und August, schwedischer Ex-Fremdenlegionär in Südamerika. Jedes Kapitel endet mit Cliffhanger, der später aufgelöst wird, um in den nächsten zu münden. Ich mag es spannend, aber das empfand ich als Nötigung – ich war kurz davor, aufzugeben, habe dann nur die Kapitel mit August vorausgelesen, dann den Rest.

Dazu sind die Handlungsstränge speziell: Madeleine ist eine manipulative Zicke, die niemanden leiden kann, ihrem Papi gefallen will, der sie aber gegenüber Zweitfrau und Zweitkindern hintan stellt. August arbeitet als Leibwächter für einen russischen Waffen- und Drogenhändler und ist bereit, für diesen zu töten. Carl als Täter serviert mit seinen Bundesgenossen einen kruden Mix an Theorien, ist aber sonst verwöhntes Söhnchen aus reichem Haus. Einzig Ibrahim wirkt wie jemand, mit dem man gern zu tun hätte. Die Vereinfachung der Täterseite wird meines Erachtens dem Thema nicht gerecht: das wäre ja so einfach, die Identifikation, das Feindbild - doch leider sind das häufig ganz normale Menschen, die mich in den letzten Monaten mit Aussagen schockiert haben (Stufe 1!). Selten habe ich Wörter mit F, die sich auf „Kotze“ reimen, in solcher Häufigkeit gelesen, gerne im Zusammenhang mit aufschlitzen oder vergewaltigen. Wichtig wäre mir der Umgang mit den „Stufe – 1 – Menschen“ gemäß des obigen Zitats.

Nicht ganz verstanden habe ich, warum der laaaange Teil mit August in Südamerika eingebaut wurde. Wozu nützt die Schwangerschaft von Madeleine? Warum interessiert sich Madeleine nach dem Essen im Hotel nicht mehr für ihren verletzten Vater? Bekommt man als Schwede illegale Waffen ausgerechnet nur in Südamerika, im Bereich eines anderen Schweden, dem man dann daheim wieder begegnet? Wer riskiert etwas, bei dem der eigene Tod einkalkuliert ist, ohne Rückvergewisserung, dass das eigene Kind dadurch wirklich überlebt, was man ja tot nicht mehr überprüfen kann? Wenn das Täter(Ferien-)haus durchsucht wird, müsste man ja die DNA der Geisel finden, die dann nicht mehr genau der entgegengesetzten politischen Richtung zugeordnet werden könnte, Islamist und Islamophob, das geht nicht gleichzeitig.

Der Schreibstil gefiel mir (besser als der Aufbau).

Bewertung vom 08.12.2018
Stieg Larssons Erbe
Stocklassa, Jan

Stieg Larssons Erbe


ausgezeichnet

In Kürze: Sachbuch. Komplex, viele Personen und Zusammenhänge. Thema: journalistische Investigation zum Mord an Olof Palme. Journalist Jan Stocklossa recherchierte mit dem Archiv Stieg Larssons als Ausgangspunkt (ja, der Autor der „Millenium-Reihe“ um Lisbet Salander und Mikael Blomkvist war „eigentlich“ Journalist). Wegen der Komplexität erfordert das Buch politisch-geschichtliche Vorkenntnisse – dann liest es sich jedoch sehr spannend, wenn auch gelegentlich sperrig.

Am 28. Februar 1986 wurde Olof Palme, damals Regierungschef Schwedens, erschossen – wer nicht ausreichend politisch interessiert ist, um davon gehört zu haben, für den ist das das falsche Buch. Man sollte sogar die politische Lage der Zeit grob skizzieren können, um den Text in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können: Apartheid, geteiltes Deutschland, Iran-Contra-Affäre, der vergangene Vietnamkrieg, Abrüstung, Kalter Krieg, Iran-Irak-Krieg, RAF, Ronald Reagan, Helmut Kohl, Margaret Thatcher. Ich war damals ein Teenager und habe das in den Nachrichten mitbekommen und zufällig vor nicht allzu langer Zeit eine Dokumentation im Fernsehen gesehen, die auf gewissen Ungereimtheiten hinwies (wer sich auf den aktuellen Stand bringen will – unten habe ich einige Links gesammelt).

Autor Jan Stocklossa hat eine Darstellung für das Buch gewählt, an die ich mich zunächst gewöhnen musste: das gibt es romanhafte Passagen, die die Handlung aus der Sicht von Larsson beschreiben – vermutlich den vielen Fans geschuldet; gleichzeitig empfand ich diese Teile als am einfachsten nachzuvollziehen. Dann gibt es die „Quellen“, Transkriptionen von Interviews oder heimlichen Mitschnitten, Briefe, Akten, Zeitungsausschnitte, Skizzen. Speziell die Briefe Larssons erzeugten bei mir eine etwas unheimlich wirkende Authentizität – leider hat man einen Schrifttypus gewählt, der die damalige Schreibmaschine darstellen sollte, aber einfach nur sehr schlecht lesbar ist (lieber Verlag: ich besitze noch alte Schulaufsätze von der Schreibmaschine geschrieben – das wäre in der Allgemeinheit nie nutzbar gewesen bei derart schlechter Qualität). Insgesamt kann man sich anhand der Quellen sehr gut in die Zeit zurückversetzen; die Notwendigkeit zum Briefweg, zu Durchschlägen im Vergleich zu heutigen Kopien oder Mail verdeutlichen die Unterschiede zum Heute zusätzlich.

Dazu kommen dann im Buch noch meist kurze Kapitel zum Fortschritt der Untersuchung des Mords - und diese fand ich teilweise problematisch. Da wird häufig eine Personen- und Faktenflut gelistet, das nächste Kapitel hat wieder einen anderen Fokus, dann geht es vielleicht vier Kapitel weiter mit einigen der Personen weiter. Darunter litt teils mein Durchblick, nach anfänglichem Zurückblättern konnte ich mich daran jedoch gewöhnen. Guter Stil ist es dennoch nach meiner Meinung nicht. Überhaupt, Stil: Gerade diese Kapitel kranken häufig an etwas, was in jedem Schulaufsatz angestrichen würde: Bezug, wo ist der Hauptsatz, Anschluss:
S. 297 „Sein Leben war 1986 erstarrt auf dieser Insel, frühere Taten verbüßt. Gestrandet in einem Land, das es offiziell nicht gab, in einem Haus, das langsam verfiel und zuwucherte.“ Warum wird hier ein Punkt statt eines Kommas gesetzt? Derlei Sätze gibt es viele.
Ähnlich mit der heißen Nadel gestrickt wirkt „er war Waffenexperte und verkaufte diese“, wen verkaufte er, die Waffenexperten? Wenn hier nicht das schwedische Lektorat geschlampt hat, war es das nach der deutschen Übersetzung.

Auf den eigentlichen Inhalt möchte ich bewusst nicht eingehen – es gibt kaum ein Buch, beim dem man ähnlich leicht viel zu viel verraten könnte. Was mir wichtig ist: ich neige nicht so sehr zu Verschwörungstheorien, der Autor eher auch nicht. Für Fans der Millenium-Bücher dürfte interessant sein, wie viele Parallelen in die journalistische Arbeit von Larsson es gab – ich werde die Reihe nochmals im Licht dieses Buches lesen.

Es findet sich eine gute 3Sat-Doku auf Youtube als Einstieg
5 Sterne

Bewertung vom 08.12.2018
Ein Winter in Paris
Blondel, Jean-Philippe

Ein Winter in Paris


ausgezeichnet

„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“ S. 128


"Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall." S. 31
Schreiben mithilfe von Zeilenwechseln. Ein Selbstmord.

Es ist für Victor, den Ich-Erzähler, das zweite Jahr der Vorbereitungsklasse für den Zugang, den Concours, auf eine der französischen Elite-Universitäten, Paris. Victor kommt aus der Provinz, der erste Student aus seiner Familie. "Ich begriff schnell, dass mir die Zugangscodes fehlten: kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend." S. 20

Victor wollte gerade Mathieu einladen, "Vielleicht wäre es ganz nett, meinen Vorschlag anzunehmen und in den nächsten Ferien mal zusammen auszugehen. Genau. Sicher ganz amüsant. Unterhaltsam und inspirierend. Kein Stöhnen und kein Zaudern. Ich musste diese Richtung einschlagen, um das zu werden, was ich nie war - beliebt." S. 38 Er selbst ist für die Kommilitonen unsichtbar – erst nach dem Selbstmord von Mathieu, mit dem er nur beim Rauchen einige Worte wechselte, wird er für die anderen sichtbar, interessant. Jean-Philippe Blondel nutzt Satzlängen, für das Überlegen, das Zaudern, das Sich-Selbst-Bekräftigen, er nutzt Zeilensprünge, er schreibt in sehr poetischen, eindringlichen Bildern.

Victor ist ein Suchender auf ihm unbekannten Wegen, ohne viel eigene Initiative „Und außerdem bewege ich mich in einem Umfeld, das weder meine Eltern noch mein Bruder jemals kennenlernen werden … . Ich ebne mir meinen Weg.“
„Und mich hast du unterwegs aufgelesen und nimmst mich ein Stück mit?“
„Ich würde eher sagen, dass du am Steuer sitzt, oder?“ S. 76

Ich fand das Buch beim Lesen wunderbar, direkt danach und dann nochmals im Rückblick. Für mich ist das ein Text zum langsamen Lesen, zwischendurch hinlegen und hinterher darüber nachsinnen. Der Stil ist poetisch, aber leicht lesbar, den Grundton fand ich melancholisch, definitiv Winter, nicht Sommer, November, dann Februar, wie in der Handlung, melancholisch, aber nicht deprimierend. Victor ist erst unsichtbar, dann sichtbar als jemand anderes, Projektionsfläche. Dennoch bleibt er fähig, das Geschehene zu beurteilen, zum Beispiel im Gespräch mit Mathieus Vater, im für mich schönsten Satz aus dem Buch:
„Zeitweise zog er sich innerlich zurück, dann war Ebbe, und ich konnte am Strand der Sätze spazieren gehen, die wir ausgetauscht hatten, die Spuren im Sand betrachten, bevor sie weggespült wurden, den Geräuschen des Windes lauschen, das Gesagte noch einmal überdenken.“ S. 113

Ein wunderschönes Buch über die offenen Fragen des Lebens, gleichzeitig ein Buch über die Unterschiede zwischen Paris und dem Umland, soziale Zugehörigkeiten. Unter https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ein-winter-in-paris/978-3-552-06377-8/ findet sich ein Interview zum Hintergrund.

5 Sterne.

Bewertung vom 28.09.2018
Mitten im Sturm
Winter, Jessica

Mitten im Sturm


ausgezeichnet

Heilsame Vergebung

Seattle.
„Ich habe einen Menschen getötet.
Fünfhundereinundfünfzig Tage lang versuche ich bereits, das Ausmaß dieser Tatsache zu erfassen und doch begreife ich es immer noch nicht.“ An Grace‘ Tür wird „MÖRDER“ geschmiert. Sie ruft nicht nach der Polizei, sie weiß, wer es war, sie geht in den Baumarkt, um Farbe zu kaufen. Das klingt nach einem Krimi.

Grace und Eric liefern sich einen verbalen Schlagabtauch nach dem anderen, seit sie sich im Baumarkt begegneten und sich später herausstellte, dass Eric und Grace‘ Kumpel Matt Mittbewohner sind. Das klingt nach Liebesroman.

Die 19jährige Grace Souza hat einen Menschen getötet vor fast zwei Jahren. Sie wurde freigesprochen aufgrund der Umstände, es sei ein Unfall gewesen. Sie leidet seitdem unter Schlaflosigkeit, Selbstzweifeln, Zweifeln, ob es wirklich ein Unfall war. Und sie ist Psychoterror ausgesetzt. Sie kratzt sich, leidet unter Schlaflosigkeit. Das klingt sehr dramatisch.

Es ist ein Roman von Jessica Winter.

Es ist mir aus dummen Gründen fast peinlich, aber ich liebe die Bücher von Jessica Winter! Nun, sonst lese ich meistens und Krimis/Thriller und sogenannte anspruchsvolle Romane (wobei Thriller von Andreas Pflüger, „Endgültig“, „Niemals“ schon recht anspruchsvoll sind; während einige der als „Literatur“ eingestuften Werke leicht-locker-unterhaltsam sind, Thomas Klupp „Wie ich fälschte, log und Gutes tat“, oder Leser zu Tränen rührt wie Benedict Wells „Vom Ende der Einsamkeit“). Ergo: ich halte mich wohl für etwas Besseres? Hoffentlich nicht. Die Romane von Frau Winter sind spannend, lustig und haben immer (mindestens) ein gesellschaftliches Brennpunkt-Thema zur Grundlage. Ja, sie sind auch mindestens gefühlvoll, aber keine hohlen Kitschschnulzen. Und: sie macht das sehr geschickt, wie sie das aufbaut, dass man zu den Ursachen hingeführt wird.

Dazu trifft die Autorin noch Kernaussagen, mitten hinein. „Durch ihn habe ich erkannt, dass Leid uns nicht stärker macht, es uns aber die Stärke zeigen kann, die wir bereits besitzen und in uns tragen.“ Oder Worte wie „Ich lasse dich los“ zu denen, die Schaden verursacht haben. „Vergebung bedeutet viel mehr, den Wunsch aufzugeben, meine Geschichte noch irgendwie ändern zu können, und mich auf die Gegenwart zu konzentrieren.“ Stark die Szene in Massachussetts, die Vergebung gegenüber einem anderen, nicht für diesen, sondern für sich selbst, um frei zu sein. Jessica Winter ist Christin, ihre Hauptfiguren auch, nicht aufgesetzt, durch ihr Handeln, wie sich das gehört. Mich beeindruckt auch das.

Okaaaay, also ich mag die Bücher, ich mag Gracie, die kratzbürstig ist, lustig, einfühlsam, klug und stur. Sie ist keine kleine Tussi, die auf den Prinzen wartet. Sie hat Mut, will ihr Leben geregelt bekommen. Und Eric sieht irgendwann ein, dass auch jemand mit Schwarz-weiß-Weltbild gelegentlich einmal seine Grenzen übertreten muss, nicht aber die Grenzen anderer. Dazu gibt es noch einen ganzen Schwung sympathischer Nebenfiguren wie Grace‘ Fast-Schwester Maggie oder Erics kleine Schwester Lilly. Insgesamt ein richtig guter Grund, sich so richtig in die schöne Geschichte hineinfallen zu lassen, die mich durch ihre Botschaft beeindruckt und durch die Schreibweise. Ich kann ja danach wieder Literatur lesen oder „Leichen“. Oder noch einmal Jessica Winter, immer gern.

Das Buch steht für sich allein; allerdings ist die beste Freundin von Grace DIE Julia, die die Protagonistin der „Julia und Jeremy – Reihe“ aus drei Bänden ist. Dieser Band liegt in der Logik „zwischen“ dem zweiten Band, kann aber allein gelesen werden. Wenn man die zwei ersten Bände gelesen hat wie ich, kennt man Grace‘ Geheimnis, wenn man dieses Buch gelesen hat, kennt man das von Julia. Nicht das das wirklich schlimm wäre – mich hat diees Buch trotzdem sehr bewegt.

5 Sterne.

Bewertung vom 23.09.2018
Mit der Faust in die Welt schlagen
Rietzschel, Lukas

Mit der Faust in die Welt schlagen


weniger gut

Komplette Entmutigung

Philipp und sein jüngerer Bruder Tobias wachsen in Sachsen auf, in Neschwitz in der Nähe von Dresden. Das Buch begleitet sie vom Vorschulalter bis sie junge Erwachsene sind, von „9/11“ bis zum Einmarsch Russlands auf der Krim.

Das wäre die Inhaltsangabe zum Buch… was der Klappentext auf der linken inneren Klappe verheißt, mag ich nicht wiederfinden, denn nach Dresden geht es nur zu einem völlig friedlichen Fußballspiel. Ja, ohne Zweifel wird hier beschrieben, wie die Jungs sich in ziemlich nationalistischer Gesellschaft bewegen. Es wird aber mir nicht klar, wie es dazu kommt, DAS wäre interessant. Ich vermag nicht zu sagen „sie rutschen dahin ab“, wie könnte ich, wenn sie im Haushalt mit einem Vater aufwachsen, der lamentiert über „Polacken-LKW“, „unsere bescheuerten Straßen“, wenn das Umfeld die Sorben diskriminiert und in der Schule viele meinen, die USA hätten 9/11 verdient. Meine Güte, die Eltern haben Arbeit! Die Jungs haben ihre Ausbildungen!

Zur Verortung, weil ich an der Stelle die Unterstellungen kenne: Ich bin Wessi. Mein Mann ist Ossi. Wir leben „im Westen“ – NEIN, wir leben in Hessen. Leute, das ist wirklich mehr als nur ein paar Jahre her mit dem Ende der DDR und mit einem gemeinsamen Land und ich höre immer noch diesen Müll, von wegen abgehängt. Ich komme ursprünglich aus einer Kleinstadt im (West-)Norden, inzwischen ohne Bahnhof, ohne Kino, 10 km bis zur Autobahn, 35 km bis zur nächsten größeren Stadt, keine Fachärzte, die meisten pendeln, abends ist wenig los, viele Wohnungen stehen leer. „Früher“, in den 80ern, war das auch dort noch anders. Ja, in den 80ern hatten die Menschen, Ost WIE West, Anstellungen meistens auf Lebenszeit und das hat sich geändert, sie lebten mehrheitlich dort, wo sie arbeiteten, die Schulen waren sauberer - alles gut und schön („früher gab's 'nen Kaiser“ sagte dazu meine Oma, früher).

Im Buch bekomme ich die deprimierende Atmosphäre, aber keine Erklärung für die Entwicklung der Protagonisten – zum Phänomen der Hooligans konnte „Hool“ von Winkler mir das noch bieten, für mich völlig überraschend. Hier kann ich einfach nur passiv mit dabei sein, so passiv, wie ich die Brüder empfinde. Es heißt im Klappentext, der eine Bruder kann sich zurückziehen. Welcher das sein wird, scheint fast willkürlich, denn dabei bei den wirren Treffen waren beide irgendwann. Vielleicht ist das der Sinn des Buches: es passiert einfach? Überhaupt, wirre Treffen: rechte oder linke Extremisten als wirre Säufer dazustellen, finde ich reichlich harmlos für eine teils erschreckend gut organisierte Szene.

Das reicht mir nicht. Dazu kommt der Schreibstil, der mit den etwas seltsamen Sätzen, oft ohne Verb, dafür Aufzählungen: „Die Musik wurde lauter mit jedem Schritt, den die Vierergruppe dem Feuer näher kam. Der Platz kreisrund. In der Mitte das Feuer. Der hintere Teil durch Bauzäune abgesperrt, wo der Steinbruch angrenzte.“ S. 70 Dazu gibt es zeitliche Sprünge, auf einer Seite ist jemand noch ein Kumpel, auf der nächsten Meth-süchtig, dem ist oft schwer zu folgen, es wirkt künstlich.

Das Buch ließ sich fix lesen, deprimierte mich aber über alle Maße und strengte mich mit seinem Stil noch dazu an. Es rüttelt nicht auf, es bietet weder Ausblick noch Erklärungen. Es nervt mich einfach. Und das Schlimme: ich kenne ausreichend „Wessis“, für die die beschriebene Einstellung im Buch genau mit ihrem „Ost-Klischee“ zusammenpasst, während sie über die gleichen Dinge jammern. Ja, zur Zeit steht Chemnitz im Fokus. Aber es geht ähnliches um in Kandel und das ist nicht im Osten. DAS sollte noch mehr Angst machen.

2 Sterne.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.09.2018
Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21
Ani, Friedrich

Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21


sehr gut

„Ein Mann in einer Bahnhofshalle, irgendein Mann in irgendeiner Bahnhofshalle.“

Tabor Süden war Kriminalhauptkommissar in der Vermisstenstelle der Kripo, quittierte den Dienst, verschwand, kehrte zurück, arbeitete in einer Detektei, jetzt will er wieder verschwinden. Seine Chefin spürt ihn auf, setzt ihn auf einen Fall an. Ein Krimi-Autor ist verschwunden.

„Mich würde niemand wiederfinden, dachte Tabor Süden, als er sich auf der obersten Treppenstufe von der Straße abwandte. Seine Zukunft wäre die allumfassende Unsichtbarkeit.“ S. 10 Der Satz ist typisch für den eher literarischen Stil des Buches, der mir dann doch gelegentlich zu viel wird: „Im irren Glauben, er könne ertwas erkennen, riss er die Augen auf und starrte die schäbige Wand vor sich an wie eine riesige, körnige, Horrorszenen speiende Leinwand.“ S. 22 Der Satz ist auch typisch für Tabor Süden und er könnte gleichmaßen für Cornelius „Linus“ Hallig stehen, den verschwundenen Schriftsteller. Beide sind sie aufgewachsen mit verschwindenden Vätern, können schweigen, haben ihre gewohnten Orte, wenige Bindungen, wenn überhaupt.

Ansonsten ist das hier eher schwierig als Krimi einzuordnen, abseits des gewohnten Schemas von Mord und Leiche, dafür liegt die Stärke darin, wie die Gesprächsführung von Süden Wirkung zeigt, wie er auf das Schuldgefühl von Angehörigen einzugehen weiß, über das ich mir vorher nicht einmal bewusst war: verschwindet jemand aus meinem Umfeld, KANN ich mich nur schuldig fühlen, schließlich hätte ich doch etwas bemerken müssen. Psychologisch meisterhaft, auch in der Düsternis der Darstellung. Kein Buch für schlechte Tage, dafür komplett unproblematisch für jene, die sensibel auf Gewaltdarstellung reagieren.

Das Buch ist der 21. (!) einer Reihe mit Tabor Süden, mein erster, ich konnte bedenkenlos einsteigen. Ich bin irgendwie beeindruckt, gleichzeitig aber nicht sehr inspiriert, weitere Bände zu lesen, dazu wirkte der Text zu desillusioniert und zu deprimierend auf mich. Die harten Brüche der Perspektivwechsel zwischen den beiden Männern hielten mich auf Distanz. Das Ende passt perfekt dazu. Jetzt bin ich ratlos und sehne mich nach einem richtig harten Thriller mit viel Gewalt oder meinem großen Teddybären oder sinniere noch ein wenig über das Buch nach oder besser später, bei Tageslicht.

4 Sterne, 3 oder 5 hätte ich genauso gegeben.

Bewertung vom 06.09.2018
Alligatoren (eBook, ePUB)
Spera, Deb

Alligatoren (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Was dunkel ist, muss ans Licht kommen“ S. 148

Branchville, South Carolina. In den 1920er Jahren hat der Baumwollkäfer die Ernte gefressen, die Bevölkerung ist von Armut bedroht.
Gertrude Pardee und ihre vier Töchter hungern, während ihr Mann Alvin seinen Lohn versäuft. Sie scheut die Blicke anderer, denn „Jede von ihnen hat es selbst schon erlebt oder kennt eine Frau, die die Spuren einer Männerfaust trug.“ S. 146 Doch Gertrude, „diese schmächtige Frau mit dem Kampfgeist einer streunenden Katze“ S. 356, hat von ihrem Daddy gelernt, mit einer Flinte umzugehen. Davon wird sie im Laufe der Handlung Gebrauch machen.

Annie Coles ist Anfang 70 und seit ihrem 18. Lebensjahr mit Edwin verheiratet, Plantagenbesitzer. Wegen der Baumwollkäfer setzt er alle Karten auf den Tabakanbau. Sieben Kinde haben sie bekommen, doch mehr als die zwei, die tot geboren worden, setzt seiner Familie der Tod von Buck zu, als dieser erst zwölf war. Mit ihren Töchtern Molly und Sarah habe die Eltern keinen Kontakt mehr. Die Söhne sind immer noch Junggesellen „Meine Söhne sind Männer in den besten Jahren, denen die Welt offensteht, aber sie verhalten sich wie zwei gehandicapte alte Junggesellen. Wenn der eine blinzelt, ist der andere blind.“ S. 159 Mit Sohn Lonnie leitet Annie eine Näherei und gibt Frauen der Umgebung so ein Auskommen. Dort bewirbt sich auch Gertrude, während sie Unterkunft nimmt im Nachbarhaus von Retta.

Oretta „Retta“ Bootles ist Köchin der Coles und lebt im Viertel der Farbigen. Dass sie sich um das kleine weiße Mädchen Mary kümmert, die Tochter von Gertrude, bringt ihr nicht viele Sympathien ein. Sie steht Annie und Gertrude bei, sieht vieles, nicht nur, weil sie gelegentlich Vorahnungen hat. „Ich frag mich, ob du die Dinge, die du siehst, beim Namen nennen musst, um die Sünde darin auszutreiben. … Ich lege sie in die Kiste, schließe den schweren Deckel und befestige ein Vorhängeschloss daran, aber Miss Annies Wünsche zählen genauso wenig wie meine. Die Wahrheit ist ans Licht gekommen. Das Geheimnis ist tot.“ S. 231 Ihre Vorahnungen erzählen vom Tod.

Dieser Südstaaten-Roman von Deb Spera aus der Krise vor der großen Wirtschaftskrise erzählt von starken Frauenfiguren aus völlig unterschiedlichem Hintergrund. Die Perspektive wechselt zwischen den drei jeweils als Ich-Erzählerin, jeweils mit eigener Stimme. Bei Gertrude ist dann die Grammatik passend („größer wie“), kommt aber vermutlich nicht so klar heraus wie im Original. Die Stimmung ist düster, drohend, voller Vorahnung, wie vor dem Sturm, der dann tatsächlich kommt. Einzig Rettas Grundhaltung ist immer die von Tatkraft, Glaube, Hoffnung trotz eigenen erlittenen Leids. Alle Frauen haben diesen Fatalismus des „Männer können nicht aushalten, was Frauen erdulden müssen.“ S. 360 Bald müssen die drei Frauen nicht nur erdulden, sie müssen sich stellen.

Bis auf den für mich etwas holprigen Einstieg durch Gertrudes schlurige Grammatik, bis ich kapiert hatte, dass die ABSICHT war, konnte ich das Buch gut lesen. Ich persönlich würde es eher unter Unterhaltungsliteratur einordnen als unter anspruchsvoller Literatur, nichtsdestotrotz fühlte ich mich glaubhaft in die Situation versetzt.Insgesamt waren mir jedoch die „Bausteine“ des Plots zu typisch, zu plakativ, die drei Frauentypen (weiß und wohlhabend, „white scum“, Nachkommin von Sklaven in Anstellungen bei Plantagenbesitzern), das Geheimnis an sich.

Ich schwankte zwischen 3 und 4 Sternen und runde von 3 1/2 auf.

Bewertung vom 04.09.2018
Wie ich fälschte, log und Gutes tat
Klupp, Thomas

Wie ich fälschte, log und Gutes tat


sehr gut

Schnodderig, schräg, schnell, schnurrig, Schüler-(Wahn-)Witz

„Heute war der beste erste Schultag ever. Weil ich nämlich nicht in der Schule war. Statt im Unterricht zu sitzen, bin ich Ballon gefahren. Hundert Prozent legal sogar.“ S. 5
Keppler-Gymnasium, Weiden. Ich-Erzähler Benedikt „Dschägga“ Jäger und seine Kumpel wurschteln sich so durch 10. Klasse und das Leben. Dabei gibt es Highlights wie die Ballonfahrt oben, als Belohnung für ein Tennisturnier, aber auch etliche Tiefschläge. Denn dass er nicht in der Schule war, ist so selten nicht. Hundert Prozent legal, schon.

Ich hatte eine etwas andere Vorstellung davon, um was es in diesem Roman geht, auch nach der Leseprobe noch: irgendwie erwartete ich etwas Spektakuläreres, das hießt, irgendetwas richtig Übles (zwischendurch irgendetwas mit dem Bauprojekt des Dealers). Wobei, Spektakulär wird es schon, aber nur in der Wirkung der Aktion zum Ende bei Sargnagel äh Scharnagl, die Ursache dafür ist jedoch ziemlich banal. Das ganze Buch ist lustig, überraschend, schnell. Wer es liest, sollte sich einfach darauf einlassen. Ich habe in dem Alter zwar eines der vermutlich langweiligsten Schülerleben geführt, fühlte mich aber dennoch durch den Text ins Damals versetzt: die Langeweile, das Gefühl des Ausgeliefertseins, seltsame Paarungsrituale, Erwartungen der Eltern, das Gefühl, irgendwie dazwischen zu stehen und recht oft neben sich.

Von den gefälschten sozialen Aktivitäten der Mutter über das angebliche Arbeitszimmer des Vaters, von dem Bauprojekt des Drogendealers über das Aufpolieren der Schuler als Hochleistungs-Schmiede bis hin zu den Küssen rein für Mariettas Image-Kampagne – ich möchte dazu die Prinzen abspielen, „Alles nur geklaut“ äh, erstunken und erlogen. Schön, dass Benedikt da Panik hat. Manche der anderen anscheinend weniger. Ich habe das Buch mit einem breiten Grinsen gelesen. Die Sprache wirkt auf mich nicht aufgesetzt, vermutlich dann aber doch für heutige Schüler. Und in zehn Jahren wird man wohl nur die Hälfte verstehen, von MINT-Initiative an bis zum Slang. Wobei, Knorke versteht man in den Kästner-Büchern immer noch. Und ein bisschen mogelt ja fast jeder von uns…

4 Sterne und ein breites Grinsen.

Bewertung vom 04.09.2018
Königskinder
Capus, Alex

Königskinder


ausgezeichnet

Von Widerständen, beständiger Liebe, Standesunterschieden und dem Stand der Dinge

„Tina und Max waren ein Paar, das sich in den großen Dingen des Lebens immer einig war. Über die kleinen Dinge zankten sie sich unablässig, aber in den großen Dingen verstanden sie sich blind.“ S. 8f. Als sie wider besseren Wissens eine Passstraße befahren, werden sie eingeschneit und müssen im Auto die Nacht verbringen. Max erzählt zur Ablenkung Tina eine wirklich wahre Geschichte: Vom Kuhhirten Jakob Boschung und von Marie, der Tochter des reichsten Bauern, die sich gegen den erbitterten Widerstand von Maries Vater verlieben.

Das ist so ein kleines Büchlein, das gleitet locker und sanft über den Leser wie eine Feder. Es streichelt mit Sätzen wie „…und dann nimmt er sich vor, ihr ab sofort jeden Wunsch zu erfüllen, bevor sie ihn haben muss.“ S. 164; es kitzelt mit Anmerkungen wie „Das gefällt den Mädchen. Sie finden, dass man mit einem, der so wenig spricht, gut reden kann.“ S. 45, es hält warm S. 150 „Mag ja sein, dass es dieses Glück geben kann, den richtigen, einzigen Menschen gefunden zu haben, den rätselhafterweise nicht austauschbaren und nicht zu ersetzenden, die andere Hälfte“. Ich habe den Text langsam gelesen, weil er ein angenehmes Gefühl vermittelt, das ich noch ein wenig verlängern wollte. Nein, es ist vermutlich sonst nichts Besonderes. Es ist „nur“ schön, ein Buch für den Nachttisch oder als Geschenk für Verliebte, mit den markierten Stellen von oben.

Die eingangs genannten Zankereien sind köstlich - so beim Festfahren des Autos, Alex Capus arbeitet da mit Wiederholungen:
"So etwas Saublödes machen nur Touristen."
"Nur die arrogantesten Blödiane unter den Touristen." S. 14
Oder
"Ein bisschen gefährlich ist das schon."
"Verdammt gefährlich" S. 15 Es ist ein wenig wie bei Loriot…
Auch die Diskussionen sind herrlich: Max erzählt lange, eine Geschichte, wie Marie und Jakob den ganzen Winter in den Bergen verbringen, sich lieben, essen, sich wieder lieben, jagen, er ihr vorsingt.
„Das ist schön“, sagte Tina. „Was meinst du, ob das Mädchen schwanger ist?“
„Nicht dass ich wüsste.“
„Seltsam….
Und Tina diskutiert und diskutiert, gynäkologische Probleme oder urologische. Wenn es nicht der Geschichte dient, da ist Max stur. S. 96. Ein bisschen wie daheim...

Ob die Geschichte wirklich wahr ist? Nun ja
https://de.wikipedia.org/wiki/Élisabeth_Philippine_Marie_Hélène_de_Bourbon
Doch das, was ich gesehen habe, die Parallelität der Amour fou, bei Tina und Max in der Eisdiele und bei Jakob und Marie beim Heimbringen der Kinder, ist vielleicht nur ein Ansatz. Autor Capus
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/koenigskinder/978-3-446-26009-2/ nennt andere, siehe die 5 Fragen, der Button unter dem Link. Ich zitiere „Die meisten Menschen ahnen heute, glaube ich, dass wir in einer Epoche der Zeitenwende leben. Große Veränderungen stehen uns bevor, das fühlen wir ganz sicher, aber wir wissen nicht, wie die Welt morgen aussehen wird. Ebenso ging es den Menschen am Vorabend der Französischen Revolution.“ Das ist jetzt eine Deutung, auf die ich nicht selbst gekommen wäre, auch wenn es in Max‘ Beschreibung der Geschehnisse um Jakob und Marie einige im Kontrast deutlich wirkende Begriffe eingeschoben gibt, „bedingungsloses Grundeinkommen“ beispielsweise, am Hof. Was wäre es dann? Habt Vertrauen, auch in den Umwälzungen, Digitalisierung oder Flüchtlingswelle, hilft Beständigkeit und Vertrauen? Ich mag da nicht so ganz folgen, aber es ist ein hübscher Ansatz.

Für ein rundum hübsches Werk 5 Sterne

Bewertung vom 02.09.2018
Vier Tage in Kabul / Amanda Lund Bd.1 (eBook, ePUB)
Tell, Anna

Vier Tage in Kabul / Amanda Lund Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Zeitverschiebung

23. August 2014. Die schwedische Kriminalkommissarin Amanda Lund, 35, baut in Nordafghanistan eine internationale Einsatztruppe auf, als Beraterin des afghanischen Truppenkommandanten, als ein Anruf ihres schwedischen Chefs Bill Ekman kommt: zwei Botschafts-Mitarbeiter sind verschwunden. Da man eine Entführung befürchtet, soll die als Sonderermittlerin und Unterhändlerin ausgebildete Amanda in Kabul tätig werden. Doch der schwedische Botschafter Sven Leijonhufvud erschwert die Aufgabe; rückt nur spärlich mit Informationen heraus. Er scheint zu lügen…dann kann Amanda, den Chauffeur der zwei Mitarbeiter zu finden (auch schön: also wurden 3! Menschen entführt). Parallel wird in der schwedischen Heimat eine Leiche gefunden, das Justiz- und das Außenministerium mischen sich ungewöhnlich stark ein und die afghanische Polizei scheint ganz eigene Ziele zu verfolgen. Besteht für die Vermissten noch Hoffnung?

Autorin Anna Tell ist Politologin und Kriminalkommissarin, sie hat über 20 Jahre Polizei- und Militärerfahrung in Schweden und im Ausland. Vor allem kann sie gut Charaktere beschreiben, ich konnte mir das „Personal“ des Buches gut vorstellen, mochte die Protagonisten und wollte wissen, wie es mit ihnen weitergeht; es soll dieses der Auftakt einer Reihe sein. „Vier Tage in Kabul“ übernimmt den Titel (Fyra dagar i Kabul) und das Cover des schwedischen Originals, das 2017 erschien. Der Leser ist quasi in Echtzeit bei den vier Tagen in Kabul (und Schweden) dabei. Das gefiel also. Auch das Verhalten der Politik im Sinn von „es kann nicht sein, was nicht sein darf“ erscheint leider sehr plausibel.

Mir missfiel: Ungereimtheiten, Überflüssiges.
Amanda sei am 10.7.1980 geboren, es ist August 2014 (diverse Polizeiberichte), sie sei 35. Ich zähle 34?
Amanda bemerkt Sicherheitslücken in der Botschaft: keine Sicherheitsübungen, Fenster offen, Freizeitverhalten risikobehaftet, es wird aber kein Sicherheitstraining angeregt in einer Gefährdungssituation?
Amanda ist Unterhändlerin, die Serie heißt „Unterhändlerin“, aber das kommt praktisch nicht zum Tragen – sie agiert als Sonderermittlerin, wäre doch auch ein Titel? Die kurzen Andeutungen in z.B. den Unterhaltungen mit dem Botschafter (wann „nett“ sein, wann Druck) machen durchaus Appetit auf mehr. Viele der Bücher von Dania Dicken setzen Verhandlungstaktiken deutlich besser in Szene.
Da stellt eine Frau fest, sie ist schwanger, gut, sie wünscht sich Kinder. Dennoch lebt sie von Kaffee, Koffeintabletten, dazu Alkohol und Lebensgefahr.
Recht früh gibt es ein Kapitel aus der Sicht eines lange namenlosen Afghanen, ab da weiß der Leser eigentlich fast alles zu den (meisten) Hintergründen. Warum nur? Mit dem zweiten Handlungsstrang hält sich die Autorin da zurück, aber es ist ja so modern geworden, Handlungen auch aus Opfer- und Tätersicht geschildert zu bekommen.
Und: nicht jeder Mitarbeiter einer Botschaft ist Diplomat, die Putzfrau beispielsweise bestimmt nicht. Da weckt der Klappentext hier den falschen Eindruck.

Bill darf Rechenschaft ablegen – und der Leser darf die Namen aller lesen, die vor ihm sitzen. Aller zehn, wobei eigentlich nur Teljer relevant ist? Ich kann mit Sätzen umgehen wie „Bill wurden alle Namen genannt“, ich will die nicht auch alle lesen.
Überhaupt, es gibt etliche Namen, auch viele Abkürzungen, NDS (der afghanische Nachrichtendienst), IED (improvised explosive devices), FRAU (der schwedische Nachrichtendienst),…eine kurze Liste bitte, gerade auch für Nicht-Schweden. Ich lerne ja gerne etwas dazu, aber da hier nur mit Begriffen um sich geworfen wird, wäre die Liste ausreichend. Erkenntnisse über Afghanistan? Weniger. Da eher Khaled Hosseini. Aber neu war mir, wie stark das schwedische Afghanistan-Engagement ist. Das hätte gerne genauer werden können, meinetwegen als Anhang.

Spannung naja, gut zu lesen, inhaltlich teils nicht zufriedenstellend, angenehme Hauptpersonen. 3 Sterne, aber der Folgeband kommt ja auch erst in über einem Jahr