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Benutzername: 
carifrue
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Herbstein

Bewertungen

Insgesamt 12 Bewertungen
12
Bewertung vom 17.05.2016
Die Allee der verbotenen Fragen
Michaelis, Antonia

Die Allee der verbotenen Fragen


ausgezeichnet

Das Buch:
Das Außergewöhnlichste an Mittdreißigerin Akelei ist ihr Vorname. Ansonsten führt sie ein geordnetes, unaufgeregtes Leben und kann weder ihrem Ehemann, ihrem Job noch ihrem Beruf besondere Begeisterung entgegenbringen. Niemand also, dem man eine abenteuerliche Reise quer durch Deutschland zutrauen würde - bis Akelei in einer Schaufensterscheibe ihren Jugendfreund Fin zu sehen glaubt, der vor 18 Jahren spurlos verschwand. Bevor sie näher darüber nachdenken kann, hat sich Akelei an die Spur des Fremden geheftet, tatkräftig unterstützt von einem Huhn, das eigentlich als Sonntagsbraten enden sollte...

Zeitgleich steht der junge Engländer Fin Paul Smith, der das norddeutsche Heimatdort seiner Eltern besucht, vor einem Grabstein, der seinen Namen trägt. Der Dorfpfarrer drückt ihm einen Koffer in die Hand, der ein merkwürdiges Sammelsurium an Erinnerungsstücken enthält - und eine Adresse in Berlin. Fin Paul macht sich auf den Weg, um das Geheimnis um Grabstein und Koffer zu lüften, immer verfolgt von einem geheimnisvollen Mann in einem grauen Wollpullover...

Meine Meinung:
Die Bücher von Antonia Michaelis leben davon, dass sie in poetischer Sprache nicht ganz alltägliche Geschichten erzählt, moderne Märchen quasi. Wer sich darauf einlassen kann, dass die Grenze zwischen Traum und Realität zeitweise verschwimmt oder dass Hühner auftreten, die den Fernsehhund "Lassie" in den Schatten stellen, der wird auch in "Die Allee der verbotenen Fragen" wieder mit einer außergewöhnlichen Geschichte belohnt, die quer durch Deutschland und zeitweise auch in die jüngere deutsche Geschichte führt, in die Zeiten vor der Wende.
Man bekommt einen Einblick in Akeleis Kindheit in der Kastanienallee, der titelgebenden "Allee der verbotenen Fragen". Alles hier entspricht den Regeln und ist wohlgeordnet, bis auf Familie Paul, mit denen Akelei keinen Kontakt haben darf. Aber gerade das Verbotene und Chaotische übt einen unwiderstehlichen Reiz auf Akelei aus und so freundet sich das Einzelkind aus dem linientreuen Arzthaushalt natürlich doch mit dem jüngsten Sprössling der "wilden" Familie Paul an.

Die Zeitsprünge in der Geschichte fordern den Leser auf, selbst mitzurätseln was vor 18 Jahren geschah, warum Fin spurlos verschwand und was es mit dem unheimlichen Grabstein auf sich hat. Die Lösung allerdings ist dann doch eine Überraschung und bietet Diskussionsstoff.
Besonders gefallen hat mir, dass sich die handelnden Personen nicht sofort in eine Schublade einsortieren lassen. Häufig musste ich im Verlauf des Buches meine gefasste Meinung über einige Nebencharaktere ändern und eigene Vorstellungen hinterfragen, ob nun über Akeleis zunächst farblos erscheinenden Ehemann oder ihre behütende, politisch engagierte Mutter.
Auch das Huhn spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte und sorgt für einige komödiantische Szenen, unter anderem auf der Reeperbahn :breitgrins:.
Hier pfeife ich gerne mal auf Realitätsnähe und lasse mich lieber gut unterhalten. Wer spannungsgeladene Geschichten mag, wird vor allem im letzten teil des Buches voll auf seine Kosten kommen.
Einziges Manko: Das letzte Buch, das ich von Antonia Michaelis gelesen habe, "Paradies für alle", hat mich noch einmal auf einer ganz anderen Ebene berührt. "Die Allee der verbotenen Fragen" ist genauso gut gemacht, ist aber von der Thematik her etwas "leichter verdaulich". Auf jeden Fall habe ich Lust bekommen, demnächst auch "Das Institut der letzten Wünsche" von Antonia Michaelis lesen zu wollen.

Bewertung vom 08.03.2016
Feine Leute
Weng, Joan

Feine Leute


gut

Für die feine Berliner Gesellschaft im Jahr 1925 ist der Mord am wohlhabenden Gottlieb Straumann bereits gelöst - auch wenn die polizeilichen Ertmittlungen noch laufen, ist Straumanns untreue Frau Berenice in den Augen der Öffentlichkeit schon so gut wie verurteilt.
Nur Paul Genzer, "Berlins jüngster Kommissar", hat Zweifel, vor allem, als Berenice Straumann kurz darauf an einer Überdosis Morphium stribt und sich im Fahrwasser des Straumann-Mordes weitere Leichen stapeln. Während er sich nebenbei noch mit anderen blutrünstigen Todesfällen in Berlins Unterschicht-Milieu herumschlagen muss, kommt Hilfe von unerwarteter Seite. Filmstar Carl von Bäumer, "der schönste Mann der Ufa", schaltet sich in die Ermittlungen ein und verfolgt dabei ganz eigene Interessen...

Ich hatte mir von "Feine Leute" erhofft, dass es mich in die "Roaring Twenties" in Berlin versetzt. Dies gelingt der Autorin leider nicht ganz. Während ich vor allem die beiden Hauptcharaktere förmlich vor Augen sehen konnte, blieb der Hintergrund eher blass und austauschbar. Auch die ganzen halbseidenen Kriminellen, mit denen Kommissar Genzer während seiner Ermittlungen zu tun bekommt, konnte ich beim Lesen nie wirklich auseinander halten.
Auch die Krimihandlung fand ich zu verworren, um ihr mit vollem Interesse folgen zu können. Seltsame Zufälle und Verwicklungen lassen dem Leser wenig Chancen, selbst bei der Lösung des Falles mitzurätseln, und auch dessen Auflösung erschien mir zu konstruiert.
Rätselhaft blieb mir auch, warum sich im Lauf des Buches so viele Verdächtige bereitwillig von einem Schauspieler verhören lassen - nur, weil er auf der Leinwand ebenfalls einen Detektiv spielt? Das ist eine etwas fadenscheinige Erklärung.
Bemerkenswert ist "Feine Leute" hauptsächlich durch das ungewöhnliche Ermittlergespann; diesen Teil des Buches habe ich sehr genossen, obwohl mir die Autorin auch hier zu viel konstruiert hat - der Grund der Streitigkeiten zwischen den beiden war für mich nicht unbedingt nachvollziehbar und schien mehr als Aufhänger für die Krimihandlung zu dienen.
Alles in allem ein Krimi, der eher durch seine Ermittler besticht; alles andere ist schnell wieder vergessen. Etwas mehr Struktur und Ausarbeitung hätte der Geschichte gut getan. Schade, denn die "Zutaten" klangen wirklich vielversprechend.

Bewertung vom 14.02.2016
Aron und der König der Kinder
Shepard, Jim

Aron und der König der Kinder


gut

Dass "Aron und der König der Kinder" kein Buch ist, das man einfach mal schnell nebenher liest, liegt nicht nur am Thema.
Fehlende Kapiteleinteilungen, jüdische Ausdrücke, die nicht erklärt werden sowie die distanzierte, nüchterne Erzählweise machen es dem Leser nicht leicht, in der Geschichte um den Waisenjungen Aron und den berühmten Arzt und Pädagogen Janusz Korczak anzukommen.
Dennoch lohnt sich die Mühe: Aus Arons Perspektive erfahren wir viel über seine dysfunktionale Familie und die immer schlimmer werdende Situation der jüdischen Bevölkerung in Warschau. Mit dem Einmauern der Bevölkerung in einem Ghetto hat der Schrecken gerade mal begonnen; bis zum Ende sind die Menschen, die dort leben, immer schlimmeren Schikanen und lebensunwürdigen Bedingungen ausgesetzt.

Aron bekommt von seiner Familie oft zu hören, dass er nur an sich selbst denke und ihnen ständig Ärger mache - etwas, wofür ich im Buch eigentlich keine Hinweise finden konnte. Mir tat Aron eher leid; dass er selbst ein negatives Bild von sich selbst hat und den immerwährenden Vorwürfen seiner Umwelt glaubt, ist kein Wunder. Dabei tut er sein Möglichstes, um unter Lebensgefahr die nötigen Dinge zum Überleben für seine Familie zu besorgen, notfalls auch durch Schmuggeln und Stehlen.
Mehrmals kreuzt Aron den Weg des damals schon berühmten "Alten Doktors" Janusz Korczak, der seine Popularität gezielt nutzt, um den Kindern in seinem Waisenhaus das Überleben zu sichern. Später wird er bei ihm im Waisenhaus leben und die täglichen Bemühungen Korczaks entgegen der immer stärker werdenden Bedrohung durch die Nazis hautnah miterleben.

Trotz einiger Kritikpunkte (fehlendes Glossar, fehlende Kapiteleinteilung) halte ich "Aron und der König der Kinder" für ein wichtiges Buch, weil es Janusz Korczak und seine Mitstreiterin Madame Stefa nicht so darstellt, als wären sie von Geburt an zum Heldentum bestimmt und hätten keine Sekunde an ihrem Auftrag gezweifelt. Jim Shepard schildert die beiden als ganz normale Menschen:
Mit Hoffnungen, Enttäuschungen, Schwächen und ihren eigenen inneren Dämonen wie im Falle von Korczak die Geisteskrankheit seines Vaters oder bei Madame Stefa die Überzeugung, hässlich zu sein.

Anfangs war ich etwas enttäuscht, weil ich mit Aron, obwohl ich ihn sympathisch fand, nicht so mitfiebern konnte wie etwa mit den Protagonisten aus "Ein Stück Himmel" oder "Die Bücherdiebin"; im Rückblick fand ich es sehr wohltuend, dass der Autor hier nicht unnötig auf die Tränendrüse drückt. Die Ereignisse sind auch so schon traurig genug und man spürt förmlich die Hoffnungslosigkeit der Menschen. Gerade durch die nüchterne Erzählweise und dadurch, dass man oft genug zwischen den Zeilen lesen muss, wirkt die Geschichte um so eindrücklicher nach.
Manche Leser werden jetzt fragen, ob es wirklich nötig ist, noch ein weiteres Buch über den Holocaust zu schreiben, wo es doch schon so viele davon gibt. Ich finde: Ja, unbedingt. Dass dieses traurige Thema auch heute noch die Menschen so sehr beschäftigt, dass Autoren Bücher darüber schreiben und Leser Bücher darüber lesen wollen, finde ich sehr wichtig.

Bewertung vom 08.02.2016
Die Tochter der Nachtigall
Schoenewaldt, Pamela

Die Tochter der Nachtigall


sehr gut

Eine richtige Kindheit hat Lucia Esposito, die mit ihrer alleinstehenden Mutter Teresa Anfang des 20.Jahrhunderts in Neapel lebt, nie kennengelernt:
Immer schon war sie diejenige, die ihre Mutter aufheitern, ihre überraschenden Stimmungsschwankungen aushalten und Missverständnisse zwischen Teresa und der Außenwelt bereinigen musste. Ein tätlicher Angriff Teresas auf einen dubiosen Nervenarzt führt dazu, dass Mutter und Tochter aus Italien und der Reichweite des Grafen fliehen müssen. Amerika lautet das Ziel der beiden, doch hier müssen sie schnell erkennen, dass ihre Aufstiegschancen im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" mittellosen Einwanderern - dazu noch alleinstehende Frauen - sehr begrenzt sind.

Die meisten ihrer Altersgenossinnen werden für minimale Löhne in Fabriken ausgebeutet oder träumen davon, möglichst schnell eine eigene Familie zu gründen. Lucia ist anders: Sie träumt von einer guten Schulbildung und davon, die beschwerlichen Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern. Mit ihrer Zielstrebigkeit und ihrem echten Interesse an ihren Mitmenschen knüpft Lucia schnell Kontakte zu anderen jungen Einwanderern und kann anderen in Notlagen weiterhelfen.
In der Schule fällt Lucia ebenfalls schnell durch ihren Arbeitseifer und ihren wachen Verstand auf, so dass ihr Traum, eine Highschool zu besuchen und später studieren zu können, gar nicht so abwegig erscheint - wenn da nicht Teresa wäre, deren Verhalten immer unberechenbarer wird. Kann Lucia ihre Träume von einer besseren Zukunft für sich und die Menschen in ihrem Umfeld verwirklichen oder wird sie ihre eigenen Ziele begraben müssen, um sich um ihre Mutter und deren sich rapide verschlechternde psychische Verfassung zu kümmern?

Meine Meinung:
"Die Tochter der Nachtigall" war mein erstes Buch über die Lage der Einwanderer in Amerika Anfang des 20.Jahrhunderts. Anhand von Lucias und Teresas Schicksal zeigt die Autorin die erschreckenden Lebens- und Arbeitsbedingungen im "Land der Unbegrenzten Möglichkeiten" auf: Wer alleinstehend und mittellos ist, ist den Schikanen der Fabrikbesitzer hilflos ausgeliefert und hat oft keine andere Wahl, als die Ausbeuterlöhne und lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, um seine Familie über Wasser zu halten. Lucia hat erkannt, dass der einzige nachhaltige Ausweg aus der Abhängigkeit in Bildung und Aufklärung besteht, doch trotz ihrer Intelligenz werden ihr als mittelloser italienischer Einwanderin Steine in den Weg gelegt.

Lucia ist mir schnell ans Herz gewachsen; sie ist intelligent, mitfühlend, engagiert und kreist trotz ihrer schwierigen Lage nicht ständig mit den Gedanken um sich selbst (wie ihre Mutter, deren Verhalten mich oft wütend gemacht hat). Immer wieder scheint es, als würde Lucia alles verwehrt bleiben, was sie sich vom Leben erhofft: Eine gute Schulbildung, bessere Möglichkeiten für die Menschen in ihrem Umfeld und die Zuneigung des jüdischen Jungen Henryk, dessen Eltern eine andere Verbindung für ihn ins Auge gefasst haben...
Ich habe stark mit Lucia und ihren Freunden mitgefiebert und war entsetzt über die hilflose Lage gerade der mittellosen Frauen und Kinder. Systematisch hetzen die Fabrikbesitzer die unterschiedlichen Nationalitäten gegeneinander auf, damit die Arbeiter bloß nicht auf die Idee kommen, sich zu solidarisieren und gegen die Fabrikbesitzer zu verbünden. Die enttäuschten Hoffnungen und gescheiterten Träume der Einwanderer haben mich sehr betroffen gestimmt. Inmitten von Ungerechtigkeit und Rückschlägen bildet Lucia eine Lichtfigur für die Menschen in ihrem Umfeld und auch den Leser; sie macht Mut, dass es sich es sich trotz aller Schwierigkeiten lohnt, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen, für das Wohl seiner Mitmenschen und auch für die eigenen Träume.
Trotz der ernsten und traurigen Themen ein Buch, das Hoffnung gibt und aufmuntert, ohne je kitschig oder unrealistisch zu werden.

Bewertung vom 28.12.2015
Das Schweigen der Bienen
Geary, Valerie

Das Schweigen der Bienen


sehr gut

Wer einen krimilastigen Roman erwartet und hauptsächlich an der Frage interessiert ist, wer der Mörder ist, sollte um "Das Schweigen der Bienen" einen Bogen machen. Bis der Mord aufgeklärt ist, befindet sich der Leser bereits auf den letzten Seiten des Buches.
Erst nach und nach enthüllt sich die Familiengeschichte der beiden Schwestern und wie es sie nach Oregon auf die "Weide" verschlagen hat, wo ihr Vater in einem Tipi lebt und Bienen züchtet. Durch viele örtliche und zeitliche Trennungen in der Vergangenheit müssen die beiden Schwestern ihren Vater erst neu kennenlernen. Sam hat schon früher den Sommer auf dem Land verbracht und das ältere Ehepaar Franny und Zeb sind so etwas wie Großeltern für die beiden. Ihre richtigen Großeltern wollen die Schwestern nach dem plötzlichen Tod der Mutter mit zu sich ins "Rentnerparadies" nehmen, doch Sam hofft, dass sie bei ihrem Vater bleiben können, vorausgesetzt, er beweist sich in dem bevorstehenden Sommer als verantwortungsvoller Erziehungsberechtigter.
Dumm nur, dass plötzlich eine Frauenleiche im Crooked River gefunden wird und dass alle Beweise gegen "Bear" sprechen.

Abwechselnd wird aus der Perspektive der beiden Schwestern Sam und Ollie, fünfzehn und zehn Jahre alt, berichtet. Sam gilt als die Mutigere und Robustere der beiden; sie wird oft ermahnt, auf ihre Schwester aufzupassen; dabei handelt sie in ihrer Abenteuerlust nicht immer verantwortungsvoll und kommt schnell an ihre Grenzen, besonders, weil ihre Schwester seit dem Tod der Mutter nicht mehr spricht.
Ollie wiederum hat einen ganz eigenen Grund, das Sprechen einzustellen: Sie ist die Einzige, die die Schemen verstorbener Menschen wahrnehmen kann. Diese "Schimmernden", wie Ollie sie nennt, bedrängen sie und scheinen ihre Hilfe zu suchen. Ollie hat Angst, dass sie sich ihrer Stimme bemächtigen würden, deshalb spricht sie sicherheitshalber überhaupt nicht mehr. .

Sam macht sich Sorgen, Ollie nach dem plötzlichen Herztod der Mutter nicht genug unterstützt zu haben, aber sie war zu beschäftigt damit, für die gemeinsame Zukunft der Schwestern bei ihrem Vater zu kämpfen. Genau diese Zukunft ist nun gefährdet durch den Mordverdacht gegen "Bear".

Die Autorin lässt ihre Leser hier lange im Dunkeln tappen; alle Beweise sprechen gegen "Bear" und man fragt sich, ob Sam in ihrer blinden Loyalität das Offensichtliche nicht wahrhaben will. "Bear" erscheint dem Leser genauso undurchschaubar und rätselhaft wie für seinen Töchtern.
Die Mördersuche schreitet wohltuend gemächlich voran, was auch durch die Umstände bedingt ist: Im ländlichen Oregon 1988 gibt es weder Handys noch Internet. Die Mädchen müssen noch ganz altmodisch in der Bibliothek recherchieren, mit Dorfbewohnern reden und Hinweise wie fallengelassene Bücher hinterlassen, wenn sie in Gefahr geraten.
Leider wirkte das Ende der Geschichte ein wenig zu konstruiert auf mich und zu gewollt schauerlich; man fühlt sich ein wenig an alte "gothic novels" erinnert. Das passt nicht so ganz mit den leisen Tönen zusammen, in denen das Geschehen bis dahin erzählt wurde. Das ist aber der einzige Kritikpunkt.
Eine mysteriöse Geschichte, das ländlich-alternative Setting, originelle, liebevoll gezeichnete Charaktere und eine verträumte, aber nicht kitschig wirkende Sprache - ein gelungener Erstling der Autorin, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.

Bewertung vom 10.12.2015
Das Fundbüro der Wünsche
Wallace, Caroline

Das Fundbüro der Wünsche


sehr gut

Von der Beschreibung her hatte ich mir "Das Fundbüro der Wünsche" ein bisschen vorgestellt wie den Film "Die fabelhafte Welt der Amelie":
Versponnen, märchenhaft, romantisch und hoffnungsvoll. Das Erstlingswerk von Autorin Caroline Wallace ist alles das, aber noch viel mehr. Wer eine süßliche, leicht verdauliche Geschichte erwartet, wird vermutlich enttäuscht sein. "Das Fundbüro der Wünsche" wird gerade durch seine Ecken und Kanten lebendig. Schmerz, Trauer und Verlust spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte (passend zu Marthas Arbeit im Fundbüro) und haben Marthas Leben ebenso geprägt wie das der Menschen, denen sie begegnet. Märchen spielen in Marthas Leben eine wichtige Rolle; tatsächlich erinnert "Das Fundbüro der Wünsche" von den Themen und Charakteren her an die Märchen von Hans Christian Andersen, in denen auch die Traurigkeit immer ihren festen Platz hat.
Anfangs fiel es mir schwer, mich auf die Geschichte einzulassen, weil es eben keine rosarote Disneywelt ist oder Montmartre an einem Sommerabend. Das Liverpool der 70er Jahre ist dreckig, laut und von Existenznöten geprägt. Auf den ersten Seiten des Buches wusste ich nicht mal, wie alt Martha überhaupt ist - eine Sechzehnjährige, die Pirouetten durch den Bahnhof dreht, den sie ihr ganzes Leben lang noch nie verlassen hat, kam mir zunächst seltsam vor, so als hätte die Autorin ihre Protagonistin bemüht "besonders" gestalten wollen. Schnell wird aber klar, welche traurige Geschichte hinter Marthas irritierenden Äußerungen und ihrem kindlich wirkendem Verhalten steckt. Nur der Rückzug in ihre eigene Phantasiewelt und die Geschichten, die sie um die Gegenstände im Fundbüro spinnt, helfen ihr, die verbalen und körperlichen Misshandlungen ihrer Pflegemutter zu überstehen.
Den roten Faden der Handlung bilden Marthas Plakate, die sie auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern im Bahnhof aufhängt ("Gehe ich recht in der Annahme, dass meine Mutter nicht meine leibliche Mutter war?") und die Antworten des anonymen Briefeschreibers darauf.
Ein zweiter Handlungsstrang entwickelt sich um einen geheimnisvollen Kofferfund: Der erfolglose australische Schriftsteller Max Cole hat auf einem Flohmarkt einen Koffer entdeckt, der aus dem Nachlass des verstorbenen Beatles-Roadies Mal Evans stammt und unschätzbare Erinnerungsstücke an die legendären Musiker beinhalten könnte. Die Authentizität des Fundes will Cole nun in Liverpool prüfen lassen, außerdem mit einem Buch über Mal Evans reich und berühmt werden und im besten Fall auch noch dessen verschollene Urne ausfindig machen.
Am Ende muss der Leser noch einmal richtig um Marthas Wohlergehen zittern, denn je mehr sie sich außerhalb der geschützten Welt um das Fundbüro herum bewegt, desto mehr kommt sie auch mit den Gefahren der Außenwelt in Kontakt, die sechzehn Jahre lang von ihr fern gehalten wurden und denen sie teilweise erfrischend vorurteilsfrei, manchmal aber auch erschreckend naiv begegnet.
"Das Fundbüro der Wünsche" zu lesen war für mich wie eine Auszeit in einer Märchenwelt, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat und sich nicht um das geschäftige und kopflose Treiben der "wirklichen Welt" kümmert. Ich wünschte, es würde viel mehr solcher "Parallelwelten" geben und Autoren, die mutig genug sind, ungewöhnliche neue Pfade zu betreten! Ganz starker Einstand, Caroline Wallace!

Bewertung vom 09.12.2015
An einem Tag im Mai
Bond, Jenny

An einem Tag im Mai


weniger gut

Durch drei wechselnde Perspektiven erlebt der Leser das Amerika zu Präsident Franklin D.Roosevelts Amtszeit mit, eine Zeit zwischen Weltwirtschaftskrise und 2.Weltkrieg. Diese drei Blickwinkel sind denkbar verschieden:
Iris McIntosh ist eine junge Frau, die durch die Weltwirtschaftskrise alles verloren hat. Nachdem ihre Stelle als Lehrerin gestrichen wurde, steht sie als Vollwaise und ledige Frau nun ohne jegliche Absicherung da und landet auf der Straße. Eine Begegnung mit Eleanor Roosevelt und deren Hilfsbereitschaft führt Iris ins "Weiße Haus", wo sie als Aushilfe anfängt, aber auf der Karriereleiter stetig nach oben klettert.
Eleanor Roosevelt will nicht nur als "Ehefrau des Präsidenten" wahrgenommen werden, sondern ihre Stellung im "Weißen Haus" für die Durchsetzung ihrer eigenen wohltätigen Projekte und Ziele nutzen. Vor allem die Situation von Frauen und Kindern, die sich ohne männliche Unterstützung durchschlagen müssen, liegt ihr sehr am Herzen, aber auch die Bemühungen um Frieden und Völkerverständigung.
Schließlich ist da noch eine Erzählperspektive, die sich erst später als Henrietta Nesbitt zu erkennen gibt, Hauswirtschafterin im "Weißen Haus". Ohne große Vorerfahrung wurde sie von Eleanor eingestellt, um den Präsidenten und sein engstes Umfeld zu bekochen.
Im Nachwort erfährt man, dass Henrietta Nesbitt eine reale Person war und Autorin Jenny Bond so fasziniert hat, dass sie sie in ihrem Buch einbauen wollte. Die Umsetzung dieser Idee ist allerdings gründlich misslungen. Henrietta bekommt nur wenige Kapitel zugesprochen, und die sind so wenig aussagekräftig dass man sie auch hätte weglassen können.
Überhaupt scheint Inkonsequenz und Unentschlossenheit nicht nur das Problem von Protagonistin Iris zu sein, sondern auch das der Autorin: Anstatt sich auf die Stärken ihrer Geschichte zu konzentrieren, nämlich die faszinierenden Charaktere der Roosevelts und ihres Umfeldes, verschiebt sich der Fokus zunehmend auf Iris' kompliziertes Privatleben.
Schon im Klappentext wird angedeutet, dass sie sich zwischen zwei Männern entscheiden muss, dem älteren politischen Berater Monty, dem der Ruf eines Frauenhelden vorauseilt, und dem sensiblen Reporter Sam, der mit vollem Einsatz Missstände in der Welt anprangert und ähnliche Ziele vertritt wie Eleanor Roosevelt.
Dass Iris allerdings über rund 300 Seiten hinweg (es waren gefühlte 1000) stetig zwischen den beiden Männern hin und her pendelt, ohne sich über die Auswirkungen ihres Tuns auf alle Beteiligten überhaupt Gedanken zu machen, nervt bald. Irgendwann möchte man einfach nichts mehr von diesem Thema hören und sich auf die politischen und zeitgeschichtlichen Aspekte konzentrieren, doch leider werden diese der Dreiecksgeschichte spürbar untergeordnet.
Oft erfährt man nur im Rückblick von wichtigen Entwicklungen wie dem Angriff auf Pearl Harbour, und die Informationen, die man über Iris' Arbeit erhält, fließen auch nur spärlich. Meist ist sie damit beschäftigt, auf Partys von Präsident Roosevelt herumzuhängen und Sam und Monty denkbar kindisch gegeneinander auszuspielen.

Fazit: Eine konsequente Linie und die Konzentration auf weniger Themen hätte dem Buch gut getan. Darüber hinaus scheint es der Autorin nicht klar zu sein, wie ihre Figuren auf die Leser wirken - gerade die fiktiven Personen sind diejenigen, die meiner Meinung nach am schwächsten gezeichnet sind.
Die Stärken des Buches liegen in der Beschreibung der nicht-fiktiven Personen wie Eleanor und Franklin Roosevelt sowie darin, dass politische Zusammenhänge in wenigen Worten gut erklärt wurden. Leider gibt es viel zu wenig davon und zu viel von Iris' privaten Unzulänglichkeiten. Schade, gute Grundidee verschenkt!

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