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Benutzername: 
marakkaram
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Lingen

Bewertungen

Insgesamt 564 Bewertungen
Bewertung vom 31.10.2022
Der Horror der frühen Chirurgie
Fitzharris, Lindsey

Der Horror der frühen Chirurgie


ausgezeichnet

>> Manchmal wurden ganze Gesichter zerstort. Eine Frontkrankenschwester formulierte es so:"Die Heilkunde stand der Wissenschaft der Zerstörung ratlos gegenüber." >>

Dies ist das zweite geschichtlich-medizinische Sachbuch von Lindsey Fitzharris. Der Vorgänger "Der Horror der frühen Medizin" hatte mich schon völlig in seinen Bann gezogen. Der zweite Teil - mit Wiedererkennungswert in Cover und Titel - hat einen ähnlichen Aufbau und genauso eine Sogwirkung.

Diesmal befasst Fitzharris sich mit dem Grauen des ersten Weltkriegs, der ganze Generationen verstümmelte. Durch die neuen Waffen und Kampftechniken gab es besonders viele Kopf- und Gesichtsverletzungen. Und während ein fehlender Arm oder Bein Annerkennung einbrachte, wandten die Menschen sich bei fehlenden Nasen, Unterkiefern oder klaffenden Löchern im Gesicht vor Ekel und Abneigung ab. Ein normales Leben war für die Entstellten oftmals nicht mehr möglich, denn auch die Nahrungsaufnahme und das Atmen waren eine Herausforderung.

Valedier, Morestin, Buck und Wood waren nur Einige, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, diesen Männern in irgendeiner Art und Weise zu helfen. Einer der bekanntesten Pioniere aber war Harold Gillies, auf den die Autorin sich vornehmlich konzentriert.

Mit seiner großen Empathie und Menschlichkeit in dieser unmenschlichen Zeit, arbeitet er unermüdlich daran, seine Methoden zur Gesichts-Rekonstruktion zu verfeinern und scheut sich nicht, völlig neue Wege zu testen.

In einem informativen, kurzweiligen Schreibstil erfährt man viele Fakten aus der medizinischen Geschichte und dem Leben und Werken Harold Gillies und seiner Weggefährten. Was das ganze beim Lesen unheimlich greifbar macht, sind die detaillierten Beschreibungen anhand von Einzelschicksalen der Soldaten.

Gerne hätte ich, wie auch schon im ersten Band, ein paar Skizzen oder Bilder gehabt. Doch die sind im Internet fix zu finden und jeder interessierte Leser wird sie sich sofort nebenher anschauen. Und auch auf aufblähende Fussnoten verzichtet die Autorin wieder und bringt diese in einem umfangreichen Glossar unter.

Fazit: Bestimmt kein Sachbuch das ich jedem empfehlen würde, aber wer sich ein wenig für den ersten Weltkrieg oder die frühe Medizin interessiert, der wird begeistert sein. Fitzharrold schafft es immer wieder eigentlich trockenen Stoff in interessante und spannende Geschichten zu verpacken.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.09.2022
Drei Tage im August
Stern, Anne

Drei Tage im August


sehr gut

>>Es ist eine Gabe, zuhören zu können, denken Sie nicht?" "Ich weiss nicht", sagte Elfie langsam. "Wäre es nicht besser, selbst etwas zu erzählen zu haben?">>

"Drei Tage im August" ist ein interessanter, eindringlicher, vielleicht etwas überladener Roman, der zur Zeit der Olympiade 1936 in Berlin spielt.

Ich bin ein großer Fan der Hulda Gold Reihe und ich mag die ehrlichen, oftmals etwas sperrigen Charaktere der Autorin. Und auch Elfie ist so eine Protagonistin, der wir tief in die Seele blicken dürfen - in ihre Gedanken und oftmals trüben Stimmungen. Das hat mir sehr gefallen.

In gewohnt ruhigem, atmosphärischem Schreibstil begleitet man eine Vielzahl von Charakteren über 3 Tage. Und dabei fängt Anne Stern die Stimmung, das Leben und die Ängste der Menschen zu dieser Zeit hervorragend ein. Jedoch sind 3 Tage nicht lang und es gab für meinen Geschmack zu viele Nebenschauplätze, die von Elfie, dem Pralinenladen und Madame Contes Geschichte abgelenkt haben.

Auf der anderen Seite fand ich es klasse, das Gedenken an Max Liebermann, Käthe Kollwitz, die Situation des Museumswärters, des jüdischen Buchhändlers, des Pagen im Adlon usw. aber die Zeit war dafür einfach zu kurz. Ich hätte mir ein paar Figuren weniger oder so einige Seiten mehr gewünscht. Nicht nur eine kurze Momentaufnahme der Ängste des ägyptischen Nachtclubbesitzers, sondern mehr von seiner tagtäglichen Situation, seinem Leben.. Manchmal las es sich für mich fast wie eine Vorgeschichte, denn die Stränge bleiben (fast) alle offen.

Und dann waren da noch die Linden... Mein ganz besonderes HIghlight. Die Linden, die schon immer da waren, kommen zwischendurch in kurzen Abschnitten zu Wort. Großartig.

Wie alle Romane von Anne Stern überzeugt auch "Drei Tage im August" durch ihren einnehmenden, flüssigen Schreibstil und ihr absolutes Händchen für Charaktere und den damaligen Zeitgeist. Auch hier lässt sie das Berlin der 36iger Jahre und den typischen Berliner Charme wieder aufleben. Ein Buch zum versinken.

Bewertung vom 09.08.2022
Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1
Blum, Charlotte

Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1


ausgezeichnet

"Hier Amt, was beliebt?" "Ich verbinde!"

oder auch "Die Abenteuer der AlmaTäuber."

Ich hatte noch nie etwas von dem Autorinnen-Duo Regine Bott und Dorothea Böhme gehört und wusste nicht so recht, was mich erwartet und ob sie es schaffen das Zeitgefühl zu transportieren. Aber das haben sie, dieser Roman ist Unterhaltung pur. Eine Zeitreise in die 20-iger Jahre, der Fräuleins, die zwar arbeiteten, alleine wohnten und ausgingen, aber z.B. keinen Männerbesuch haben durften. Eine unheimlich interessante und ein wenig vergessene Ära. Die Autorinnen schaffen es dieses ganz besondere Flair der 20-iger geschickt wieder aufleben und den Leser hautnah miterleben zu lassen. Und das so flott und lebendig ge- und beschrieben, dass man nur so durch die Seiten fliegt und auf s großartigste unterhalten wird.

Ganz nebenbei bekommt man immer wieder kleine Einblicke in den Arbeitsalltag des Fräuleins vom Amt, diesem längst ausgestorbenen Beruf, der den Frauen so einiges abverlangte. Das war für mich das I-Tüpfelchen.

Wer hier einen knallharten Krimi erwartet (was im Übrigen weder Cover noch Klappentext vermitteln), wird vielleicht weniger auf seine Kosten kommen, aber für mich hat der Fall und die Ermittlungen perfekt in das Setting hineingepasst. Und obwohl die Aufklärung im Mittelpunkt steht, ist sie nicht der einzige Dreh- und Angelpunkt, denn das sind definitiv Alma und ihre Freunde und das damalige Zeitgefühl.

Die Charaktere sind bunt gemischt, authentisch und lebendig. Es macht Spaß ihnen zu folgen. Alma und ihre Mitbewohnerin Emmi sind herrlich erfrischend, nicht auf den Mund gefallen und durch und durch sympathisch. Genauso wie der junge Kriminalanwärter Ludwig Schiller, der von der toughen Alma so manches Mal in den Schatten gestellt wird. Sie kombiniert rasch und prescht mutig voran. Aber auch an Nebencharakteren die die Zeit widerspiegeln, mangelt es nicht, allen voran "Otto". Großes Kino!

Durch den bildhaften Schreibstil hat man nicht nur die Personen, sondern auch die Schauplätze und das mondäne Baden-Baden mit seinen illegalen Kasinos, den noblen Hotels und der Trabrennbahn ganz deutlich vor Augen.

Mir hat der erste Fall von Alma und ihrem Ludwig absolut gefallen. Ich mochte die Idee, die Wendungen und logische Auflösung. Aber vor allem mochte ich Alma und das Setting. Ein Reihenauftakt ganz nach meinem Geschmack. Ich kann den zweiten Teil kaum erwarten.

Bewertung vom 01.05.2022
Die sieben Männer der Evelyn Hugo
Reid, Taylor Jenkins

Die sieben Männer der Evelyn Hugo


ausgezeichnet

Ein Leben für den Erfolg - Rückblicke einer Diva

>> Aber ich mag dich, wie du bist. Ich mag dich unmoralisch, rauflustig und schwierig. Ich mag die Evelyn Hugo, die die Welt so sieht, wie sie ist, und dann hinausgeht und ihr abringt, was sie will. Also, nenn es, wie du willst, nur ändere dich nicht. Das wäre eine wahre Tragödie. >>

Mittlerweile gehe ich eher vorsichtig an allzu gehypte Bücher heran, aber an Evelyn Hugo kam auch ich nicht vorbei. Dieses Buch hat mich irgendwann so gereizt, dass ich es kaum abwarten konnte, bis es endlich auf deutsch erschien. Und das Warten hat sich gelohnt.

Taylor Jenkins Reid hat mit Evelyn eine berechnende, manchmal über Leichen gehende, aber auch nur allzu menschliche Diva geschaffen, hinter deren Fassade jahrzehntelang kaum jemand je zu blicken vermochte. Umso erstaunlicher, dass sie ausgerechnet der jungen Lokaljournalistin Monique exclusiv ihre Lebensgeschichte oder eher Beichte anvertrauen möchte.

Und so beginnt Evelyn zu erzählen und entführt den Leser in das Hollywood der 50-iger Jahre. Taylor Jenkins Reid lässt das Zeitgefühl, die Ära der Filmdiven und das Gemauschel der Hollywoodstudios gekonnt wieder auferstehen. Man ist mittendrin, kann Evelyns Gedankengänge nachvollziehen, auch wenn man selber wahrscheinlich anders gehandelt hätte.

Und genau das macht diesen Roman aus, ein Charakter, der einem auf den ersten Blick vielleicht unsympathisch erscheint, der aber so lebendig, vielschichtig, ehrlich und reflektiert ist, dass man gar nicht umhin kommt, sie irgendwie zu mögen. Und sie trägt das Buch und ihre Geschichte - eine Geschichte über Zweckbeziehungen, Freundschaft und der einen großen Liebe, aber auch über Schuld, Verrat, Vergebung und Selbstbestimmung.

Dieses Buch lebt von seinen leisen Emotionen. Ich fühlte mich in eine Zeit von Doris Day und Rock Hudson zurückversetzt, aus der ich gar nicht mehr auftauchen mochte.

Und dann ist da ja auch noch die Frage, warum ausgerechnet Monique? Die ist für mich allerdings immer wieder in den Hintergrund gerückt, weil ich von Evelyns Geschichte so gefesselt war. Zudem bleibt Monique etwas blass, was gefühlt aber auch kaum anders funktioniert hätte.

Fazit: Die sieben Männer der Evelyn Hugo ist ein ruhiges Buch, reflektiert von einer Diva erzählt und doch mit so einer leisen, intensiven Wucht. Großes Kino!

Bewertung vom 30.03.2022
Gezeitenmord / Teit und Lehmann ermitteln Bd.1
Jürgensen, Dennis

Gezeitenmord / Teit und Lehmann ermitteln Bd.1


gut

Netter Reihen-Auftakt mit einem sympathischen Ermittlerteam, aber auch irgendwie noch viel Luft nach oben.

Die Grundzutaten für einen spannenden, soliden Krimi sind alle vorhanden:

- nachvollziehbare Handlungen - interessanter Fall - authentische Auflösung

doch an manchen Stellen wollte er einfach zu viel und an anderen wiederum hat mir etwas gefehlt.

Aber von vorn

Lykke und Rudi sind ein tolles Team und sehr schnell freundschaftlich zusammengewachsen. Beide schleppen einen enormen Rucksack aus der Vergangenheit mit sich herum. Lykkes wird recht schnell offensichtlich und nachvollziehbar, Rudis hätte ich im Gegenzug gern erst im nächsten Band erfahren.

Die Zwei sind einem auf Anhieb unheimlich sympathisch, weil sie sehr menschlich agieren und man ihre Schwachpunkte kennt. Auch wenn mir Rudis Dänen/Deutsche Kriegssprüche nicht gefallen haben und sie mir im Zusammenhang mit Nennung des allseits bekannten Österreichers auch immer wieder arg aufgestoßen sind - aber das ist scheinbar Geschmackssache.

Die Nebencharaktere sind fast allesamt Klischee pur, aber haben mir trotzdem gut gefallen. Sie waren greifbar und klasse ausgearbeitet. Nur der tatsächliche Täter bleibt am Ende ziemlich blass.

Und das ist auch mein Hauptkritikpunkt. Trotz eines hochdramatischen Falls, blieb die Spannung auf der Strecke und der Plott hatte immer wieder Längen. Die beiden verdächtigen in alle Richtungen und tauschen sich und ihre Ideen rege aus, aber das lässt einem letzten Endes kaum Raum zum selber "ermitteln". Ich mag es lieber, wenn der "Elefant" unerkannt im Raum steht und ich auch eigene Gegenthesen aufstellen kann.

Was mir hingegen richtig gut gefallen hat, war die Kleinstadt-/Dorfatmosphäre, wo jeder jeden kennt und auch jeder seinen Stempel weg hat. Das war toll beschrieben und irgendwie lag über dem gesamten Dorf eine düstere, beklemmende Atmosphäre.

Fazit: Ein netter Krimi, dem es ein wenig an Spannung und Tiefe mangelt, was auch ein sympathisches Ermittlerteam nicht komplett wettmachen konnte. Der zweite Teil wird zeigen, ob ich die Reihe weiterverfolgen werde oder nicht.

Bewertung vom 16.03.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


sehr gut

>>"Normal ist langweilig", sagte Jacky, die die Ärmel ihres Longsleeves bis weit über ihre Handgelenke geschoben hatte, schnell. "Narben erzählen unsere Geschichten. Warum sollte man das glätten und beschönigen wollen?">>

"Man vergisst nicht, wie man schwimmt" ist ein unterhaltsamer Roman, mit einer Story, die manchmal vielleicht etwas over the top ist, aber auch mit vielen ernsten Untertönen. Das hat mir sehr gut gefallen. Christan Huber schafft es, einen in die eigene Jugend und die Sommer der 90iger zurück zu katapultieren.

Im Prinzip finden (fast) die kompletten 400 Seiten in 24 Std. statt. Und das sind 24 Std., die es in sich haben. Man merkt recht schnell, das "Krüger" nicht nur mit seinem Spitznamen sondern auch mit seinem Körper und Sozialleben bzw. Status hadert. Seit er nicht mehr schwimmen mag, sind die Sommer auch nicht mehr das, was sie mal waren und verlieben, nein, verlieben darf er sich schonmal gar nicht. Doch als er und sein bester Freund Viktor, Jacky vom Zirkus kennenlernen, bekommt das so sorgsam aufgebaute Gefüge, unaufhaltsam Risse.

Christian Huber hat einen Coming of Age Roman geschrieben, der sowohl junge Erwachsene als auch ältere Semester begeistert; sprachlich flüssig, zur Thematik passend und mit einem sehr sympathischen Hauptprotagonisten, dessen Handlungen und Gedanken absolut nachvollziehbar und altersgerecht sind. Da waren schon tolle Szenen und Gedankengänge bei und ich glaube, jeder wird sich selbst oder seine Freunde aus der Zeit in der ein oder anderen Handlung wiederfinden. Auf der einen Seite also herrlich authentisch, auf der anderen Seite gibt es ein paar Dinge, die mir ein klein wenig zu überspitzt waren, aber das hat dem Lesespaß keinen Abbruch getan.

Was der Schreibstil für mich nicht immer ganz geschafft hat, war tiefe Emotionen zu transportieren, dafür war er dann vielleicht zu klar und schnörkellos. Es gab sie durchaus, diese ganz ruhigen Momente, die unter die Haut gingen, vor allem, als Pascal seine Geschichte erzählt und ich habe durchgehend mit ihm mitgefiebert, mitgelacht und mitgelitten, aber größtenteils doch eher aus der Distanz und das macht diese eigentlich sehr ernste Geschichte zu einem locker-leichten, süffigen Lesespaß.

Bewertung vom 02.01.2022
Unser kostbares Leben
Fuchs, Katharina

Unser kostbares Leben


ausgezeichnet

**Die Tage, an denen es nach conchierter Schokoladenmasse roch, waren die guten in Mainheim. Es waren die nahezu windstillen oder die des Westwinds. Die anderen waren die Tage des trockenen Ostwinds, und der trug den scharfen weißen oder gelben Qualm aus den hohen Schloten der Ruberus AG direkt in den Himmel über der Stadt. Farbstoffe, Lacke und Arzneimittel wurden in der Fabrik des Nachbarorts Neumainheim hergestellt.**

Katharina Fuchs erzählt die Geschichte der Kinder der 70-iger anhand authentischer Mädchen/Frauen, die ihren Weg gehen. Sie haben Ecken und Kanten und manchmal andere Meinungen, sind einem aber trotzdem immer sympathisch. Die selbstbewusste Minka, Tochter des Bürgermeisters und ihre zurückhaltende Freundin Caro, deren Pa der Generaldirektor der Schokoladenwerke ist, sind nicht nur sehr unterschiedliche Charaktere, wie es in Freundschaften häufig der Fall ist, auch ihre Familien könnten kaum verschiedener sein und das nicht nur wegen der politischen Gesinnung ihrer Väter. Und trotzdem schweißt die Männer etwas zusammen.

Die sorglose Kindheit der beiden endet mit dem Tag, an dem ihr Klassenkamerad Guy im Schwimmbad verunglückt und sie langsam lernen die Dinge zu hinterfragen, nicht mehr alles hinzunehmen und auch hier und da einen anderen Blickwinkel auf ihre Familien, ihr Umfeld und Mainheim bekommen.

Ein weiterer sehr interessanter Charakter ist Claire. Sie kommt mit 10 Jahren als Waise aus Vietnam in ein hessisches Kinderheim und trifft dort auf die schielende Marita. Obwohl sie ein Schicksal teilen, bekommt nur eine der beiden eine wirkliche Chance.

Katharina Fuchs versteht es mit ihren Romanen immer wieder den Leser abzuholen und mitzunehmen und so bin ich auch hier wieder tief in die 70/80iger Jahre eingetaucht. Der Zeit der unbeschwerten Kindheit, industrieller Umweltsünden, Korruption und Medikamentenskandale, grausamen Tierversuchen, der Wirtschaft und der Politik. Insbesondere die politischen Hintergründe fliessen bei ihr immer ganz nebensächlich, aber sehr fundiert mit ein. Und obwohl ich nicht in Hessen aufgewachsen bin, hatte ich alles sehr anschaulich vor Augen. Unheimlich interessant fand ich auch das (Sarotti) Cassada-Werk in Hattenheim, anhand dessen der Konkurrenz- und wirtschaftliche Druck aufgezeigt wird.

Auch ich bin ein Kind der 70iger und klar hat man einiges mitbekommen, aber vieles ist in seiner ganzen Tragweite auch an einem vorbeigegangen. Katharina Fuchs hat einen so intensiven, detail- und facettenreichen Schreibstil, der auf der anderen Seite ganz ruhig, unaufgeregt und manchmal schon sachlich daherkommt, dass man die Zeit ganz unwillkürlich noch einmal komplett durchlebt, mit allem, was sie so mit sich brachte. Das war schon großes Kino und die 600 Seiten flogen nur so dahin. Auch aufgrund der oftmals kurzen Kapiteln und wechselnden Perspektiven, fiel es schwer das Buch aus der Hand zu legen.

Fazit: Eine ganz klare Leseempfehlung, für alle, die gerne eine authentische Reise durch die Zeit mögen, ohne aufgebauschte Dramen und erhobenem Zeigefinger. Dinge, die angesprochen werden, stehen für sich und hallen auch so noch lange nach.

Bewertung vom 16.11.2021
Das wunderbare Weihnachtshotel
Schaler, Karen

Das wunderbare Weihnachtshotel


ausgezeichnet

Der Roman war ein Spontankauf, da er ein richtig schönes, kuscheliges Weihnachtsfeeling versprach und genau das hält er auch. Er hat mich so begeistert, dass ich inzwischen sogar auch das Hörbuch (im Original) gehört habe - nur die Verfilmung kenne ich noch nicht.

Die Idee und das Setting sind traumhaft. Den Geist der Weihnacht (wieder)entdecken in einem Christmascamp. Klirrende Kälte, verschneite Landschaft, heißer Kakao und selbstgebackene Plätzchen, Weihnachtsdeko und x-mas Pullies. Dazu tolle unterschiedliche Charaktere, die alle ihre Geschichten haben, warum sie beim Camp mit dabei sind. Allen voran Karrierefrau Haley, die Weihnachten absolut nichts abgewinnen kann und jedes Jahr mit ihren Eltern in die Karibik fliegt. Dieses Jahr aber gibt sie alles um den begehrten Auftrag von Tylor Toys an Land zu ziehen, auch wenn das heißt, dass sie dafür als Grinch ins Christmascamp ziehen muss...

Ich habe diesen Roman von der ersten Seite an geliebt. Karen Schaler hat mit Haley eine Karrierefrau geschaffen, die zwar ihren Beruf über alles stellt und von Work-Life Balance meilenweit entfernt ist, aber dem Leser trotzdem sofort unheimlich sympathisch ist. Das ist großartig gelungen. Genauso wie die anderen Charaktere, die aus dem Leben gegriffen sind und mit denen sich jeder identifizieren kann. Selbst die zarte Liebesgeschichte überzeugt - wunderschön, realistisch und kitschfrei.

*Das wunderbare Weihnachtshotel" ist ein absoluter Wohlfühlroman mit Charme, Humor und ganz viel Weihnachts-Winterfeeling!

Bewertung vom 17.03.2021
Lebenssekunden
Fuchs, Katharina

Lebenssekunden


ausgezeichnet

** "Mit Willensstärke geht sowas!" Und als Roland die Augenbrauen hochzog, fügte sie hinzu: "Und mit Tabletten." Jetzt wurden Rolands Augen auf einmal weit, voller Mitgefühl mit seiner Schwester die dort regungslos saß, mit ihrem geschundenen fünfzehnjährigen Körper. **

1956: Unterschiedlicher könnten ihre Leben nicht sein... Die 15-jährige Angelika aus Kassel, sehr selbstbewusst und selbstbestimmend, bricht die Schule ab und möchte Fotografin werden, während die gleichaltrige Leistungssportlerin Christine schon von klein auf in einem DDR-Trainingskader gedrillt wird und über sie und ihren Körper nur noch andere entscheiden.

Katharina Fuchs erzählt die Geschichte der beiden jungen Frauen abwechselnd und so packend, dass man sich dem nicht entziehen kann.

Obwohl so unterschiedlich, sind mir beide Charaktere sehr nahe gekommen. Sie sind Teenager, unheimlich authentisch mit Ecken und Kanten. Man kann ihre Gedanken und Handlungen nachvollziehen, auch wenn man selber vielleicht anders gehandelt hätte, sieht und fühlt man es aus ihrer Sicht. Dazu trägt auch bei, dass Katharina Fuchs ein Händchen dafür hat, die damalige Zeit mit all ihren Facetten wieder aufleben zu lassen. Man wird beim Lesen einfach hineingesogen in die 50-iger und hat das Gefühl alles hautnah mitzuerleben. So ging es mir jedenfalls. Ich stand mit Angelika in der Dunkelkammer und habe mit Christine im Kader gelitten. Man hat ja schon einiges vom ostdeutschen Leistungssport bzw. Drill gehört, aber das hier ging tatsächlich nochmal eine Lade tiefer. Das war schon ganz großes Kino. Auch, weil die Autorin das aktuelle Zeitgeschehen ganz geschickt mit einbaut, von Willy Brandt bis zum Bau der Mauer, den man hier mal aus einem ganz anderen Blickwinkel miterlebt.

Ihr Schreibstil ist flüssig und trotzdem sehr eindringlich, emotional und völlig unverkitscht. Lebensgeschichten, die noch lange nachhallen.

*Lebenssekunden" war mein erster Roman von Katharina Fuchs und ich freue mich schon auf "Zwei Handvoll Leben" und "Neuleben" von ihr.

Bewertung vom 28.02.2021
Homefarming
Rakers, Judith

Homefarming


sehr gut

Ein bisschen ist der Name Programm, denn hier geht es nicht nur um Gemüseanbau, sondern auch um Hühnerhaltung. Eine tolle, abwechslungsreiche Mischung, also. Und genau aus dem Hühner-Grund habe ich mir dieses Buch auch gekauft, denn da gehen andere Gartenratgeber ja eher selten drauf ein.

Judith Rakers beschreibt unheimlich sympathisch wie sie überhaupt an Garten und Hühner gekommen ist und das macht großen Spaß zu lesen.

Wenn es dann allerdings um den Obst- und Gemüseanbau geht, merkt man schnell, dieses Buch richtet sich tatsächlich an absolute Neulinge und Einsteiger. Judith Rakers motiviert eher dazu einfach anzufangen -auch ohne grünen Daumen - als wirklich die Themen richtig zu vertiefen. Das war mir zu allgemein gehalten. Es wird nicht auf Fruchtfolge etc. eingegangen, dafür empfiehlt sie "Erdmiete", was ich tatsächlich keinem Einsteiger raten würde.

Im zweiten Teil geht es rein um die Hühnerhaltung und ist mit rund 100 Seiten sehr umfangreich und unheimlich interessant. Ich habe zwar keine Erfahrung, denke aber, dass hier mehr in die Tiefe gegangen wird. U.a. werden die verschiedenen Rassen vorgestellt, Ställe, Hahn oder nicht etc.

Abgerundet wird das Ganze mit Rezepten, die allesamt eher klassisch gehalten sind, wie Tomatensuppe und Holunderblütensirup und somit auch eher nur für Neulinge interessant.

Judith Rakers ist einfach unheimlich sympathisch und davon lebt ihr Buch. Es macht Spaß sich von ihr durch den Garten führen zu lassen und jeder, der vorher noch unschlüssig war, ob Gemüseanbau wirklich etwas für ihn ist, wird nach der Lektüre sofort loslegen wollen. Und das ist ja auch Sinn der Sache. Bei einem Untertitel wie "Selbstversorgung", erwarte ich jedoch mehr und vor allem mehr in die Tiefe gehend.