"Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn." Eine junge Frau in einer Großstadt in Rumänien auf dem Weg zum Verhör beim Geheimdienst. Sie hat diese Fahrt mit der Straßen bahn schon oft machen müssen, doch diesmal hat sie aus einer Vorahnung heraus Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste eingepackt. Unterwegs lässt sie ihr Leben an sich vorüberziehen: die Kindheit in der Provinz, die Deportation der Großeltern, das sporadische Glück, das ihr mit Paul gelingt. Außen: Haltestellen, ein- und aussteigende Personen, vorbeiziehende Straßen. All dies führt doch immer wieder zurück zu: "Ich bin bestellt." Doch an diesem Tag hält der Fahrer an der Station, an der sie aussteigen muss, nicht an. Und sie beschließt zum ersten Mal, nicht zum Verhör zu gehen.
CD 1 | |||
1 | Titel 1 | 00:03:24 | |
2 | Titel 2 | 00:02:35 | |
3 | Titel 3 | 00:03:43 | |
4 | Titel 4 | 00:03:21 | |
5 | Titel 5 | 00:03:03 | |
6 | Titel 6 | 00:04:21 | |
7 | Titel 7 | 00:03:16 | |
8 | Titel 8 | 00:03:30 | |
9 | Titel 9 | 00:02:12 | |
10 | Titel 10 | 00:02:32 | |
11 | Titel 11 | 00:04:29 | |
12 | Titel 12 | 00:01:41 | |
13 | Titel 13 | 00:05:35 | |
14 | Titel 14 | 00:01:20 | |
15 | Titel 15 | 00:03:43 | |
16 | Titel 16 | 00:02:00 | |
17 | Titel 17 | 00:02:17 | |
18 | Titel 18 | 00:03:52 | |
19 | Titel 19 | 00:03:15 | |
20 | Titel 20 | 00:03:34 | |
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21 | Titel 21 | 00:02:49 | |
22 | Titel 22 | 00:03:08 | |
23 | Titel 23 | 00:03:42 | |
24 | Titel 24 | 00:01:56 | |
25 | Titel 25 | 00:03:54 | |
CD 2 | |||
1 | Titel 26 | 00:03:59 | |
2 | Titel 27 | 00:03:20 | |
3 | Titel 28 | 00:04:06 | |
4 | Titel 29 | 00:03:14 | |
5 | Titel 30 | 00:02:28 | |
6 | Titel 31 | 00:03:18 | |
7 | Titel 32 | 00:04:17 | |
8 | Titel 33 | 00:03:31 | |
9 | Titel 34 | 00:02:04 | |
10 | Titel 35 | 00:02:57 | |
11 | Titel 36 | 00:04:06 | |
12 | Titel 37 | 00:03:06 | |
13 | Titel 38 | 00:03:51 | |
14 | Titel 39 | 00:03:04 | |
15 | Titel 40 | 00:03:20 | |
16 | Titel 41 | 00:03:59 | |
17 | Titel 42 | 00:02:51 | |
18 | Titel 43 | 00:03:10 | |
19 | Titel 44 | 00:01:34 | |
20 | Titel 45 | 00:02:02 | |
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21 | Titel 46 | 00:03:44 | |
22 | Titel 47 | 00:03:41 | |
23 | Titel 48 | 00:04:04 | |
24 | Titel 49 | 00:03:50 | |
CD 3 | |||
1 | Titel 50 | 00:02:44 | |
2 | Titel 51 | 00:03:32 | |
3 | Titel 52 | 00:04:00 | |
4 | Titel 53 | 00:03:07 | |
5 | Titel 54 | 00:03:28 | |
6 | Titel 55 | 00:03:01 | |
7 | Titel 56 | 00:03:28 | |
8 | Titel 57 | 00:04:38 | |
9 | Titel 58 | 00:04:07 | |
10 | Titel 59 | 00:01:38 | |
11 | Titel 60 | 00:03:36 | |
12 | Titel 61 | 00:04:01 | |
13 | Titel 62 | 00:04:56 | |
14 | Titel 63 | 00:02:14 | |
15 | Titel 64 | 00:03:33 | |
16 | Titel 65 | 00:04:01 | |
17 | Titel 66 | 00:03:45 | |
18 | Titel 67 | 00:04:12 | |
19 | Titel 68 | 00:03:42 | |
20 | Titel 69 | 00:03:40 | |
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21 | Titel 70 | 00:04:47 | |
22 | Titel 71 | 00:03:32 | |
CD 4 | |||
1 | Titel 72 | 00:03:33 | |
2 | Titel 73 | 00:03:57 | |
3 | Titel 74 | 00:02:54 | |
4 | Titel 75 | 00:02:24 | |
5 | Titel 76 | 00:04:29 | |
6 | Titel 77 | 00:04:53 | |
7 | Titel 78 | 00:03:46 | |
8 | Titel 79 | 00:04:42 | |
9 | Titel 80 | 00:04:17 | |
10 | Titel 81 | 00:03:32 | |
11 | Titel 82 | 00:02:58 | |
12 | Titel 83 | 00:04:50 | |
13 | Titel 84 | 00:03:09 | |
14 | Titel 85 | 00:05:06 | |
15 | Titel 86 | 00:01:56 | |
16 | Titel 87 | 00:04:04 | |
17 | Titel 88 | 00:04:46 | |
18 | Titel 89 | 00:03:32 | |
19 | Titel 90 | 00:03:23 | |
20 | Titel 91 | 00:03:39 | |
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21 | Titel 92 | 00:03:26 | |
CD 5 | |||
1 | Titel 93 | 00:03:50 | |
2 | Titel 94 | 00:03:26 | |
3 | Titel 95 | 00:02:01 | |
4 | Titel 96 | 00:04:59 | |
5 | Titel 97 | 00:02:42 | |
6 | Titel 98 | 00:02:09 | |
7 | Titel 99 | 00:03:16 | |
8 | Titel 100 | 00:03:37 | |
9 | Titel 101 | 00:01:49 | |
10 | Titel 102 | 00:02:14 | |
11 | Titel 103 | 00:02:49 | |
12 | Titel 104 | 00:04:07 | |
13 | Titel 105 | 00:02:42 | |
14 | Titel 106 | 00:04:16 | |
15 | Titel 107 | 00:02:44 | |
16 | Titel 108 | 00:04:31 | |
17 | Titel 109 | 00:02:33 | |
18 | Titel 110 | 00:04:00 | |
19 | Titel 111 | 00:03:30 | |
20 | Titel 112 | 00:02:23 | |
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21 | Titel 113 | 00:03:03 | |
22 | Titel 114 | 00:04:18 | |
23 | Titel 115 | 00:03:00 | |
24 | Titel 116 | 00:03:34 |
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieser im Jahr 1997 veröffentlichte Roman Herta Müllers schildert den Alltag der rumänischen Diktatur, und zwar aus der Perspektive einer Frau, die, weil sie sich in den Westen zu verheiraten versucht, wegen "Landesverrats" und "Prostitution am Arbeitsplatz" angeklagt ist. Ganz auf das Bewusstsein ihrer Heldin lässt Müller sich ein, in ihrer Sprache, in der Begrenztheit des Blicks. Eine Dissidentin ist die Frau nicht, in einer Straßenbahnfahrt zum Arbeitsplatz wird ihr Leben und Denken in Zeiten geschichtet. Gebührend beeindruckt zeigt sich Wolfgang Schneider von dieser ungekürzten Hörbuchversion. Der "etwas edelbleiche Ton" der Vorleserin Marlen Diekhoff passt für die Begriffe des Rezensenten allerbestens zum Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Das verkehrte Glück
Herta Müllers Roman aus der Diktatur / Von Ernst Osterkamp
Eine Frau fährt in einer rumänischen Großstadt zum Verhör. Sie hat diese Fahrt schon oft machen müssen und Rituale der Vorbereitung entwickelt, die ihr die Angst einzudämmen helfen. An diesem Donnerstag ist die Angst besonders groß. Vorsorglich hat sie Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste eingepackt: für den Fall, daß Major Albu, der sie einbestellt hat, sie diesmal nicht mehr nach Hause läßt. Sie steigt in die Straßenbahn ein, die Fahrt zum Verhör wird zum Albtraum, Endstation Irrsinn.
Auf der Fahrt zieht ihr Leben an ihr vorüber: ein dunkler Bewußtseinsstrom, auf den die Erinnerung an die seltenen Augenblicke des Glücks matte Glanzlichter wirft. Ihr Glücksverlangen richtet sich zunächst auf den geliebten Vater, einen Busfahrer, aber der betrügt seine Frau nach Feierabend in seinem Gefährt lieber mit einer ehemaligen Schulkameradin seiner Tochter. Aus der Ehe, in die sie nach dem Tod des Vaters flieht, bricht sie nach drei Jahren wieder aus. Der Mann, an den sich ihre Liebe zufällig geheftet hat, wird ihr rasch gleichgültig; die Großfamilie wird regiert vom Schwiegervater, der sich eine Geliebte hält, die ebenfalls im Alter der Erzählerin ist und sich beruflich der Schädlingsbekämpfung widmet. Dieser schillernde Patriarch, der im übrigen auch seine Schwiegertochter gerne spüren läßt, "was er in der Hose hat", war in einer früheren Phase seiner gebrochenen Karriere berüchtigt als "Parfümkommunist"; er war in den fünfziger Jahren als für Enteignungen zuständiger Parteiaktivist verantwortlich für die Deportation zahlreicher Menschen in die Lager, darunter auch der Großeltern der Erzählerin. Nach der Trennung von ihrem Mann geht die Frau, die in einer Konfektionsfabrik arbeitet, für kurze Zeit ein liebloses Verhältnis mit einem Arbeitskollegen ein. Als sie sich weigert, weiter mit ihm ins Bett zu gehen, zeigt er sie an, weil sie Zettel mit ihrer Adresse in für Italien bestimmte Anzüge gesteckt hat, in der Hoffnung, ein Italiener werde so auf sie aufmerksam und sie heiraten. Sie wird entlassen; die Verhöre beginnen.
Zuvor aber hat sie auf dem Flohmarkt Paul kennengelernt, der nach Feierabend illegal Antennen für die Budapester und Belgrader Fernsehprogramme baut und ein rotes Motorrad besitzt. Auf Fahrten mit Paul kann sie für Augenblicke "dumm werden vor Glück". Doch ist dies ein kleines, armes, immer gefährdetes Glück: "Mit dem Glück habe ich mich abgefunden, auch wenn Paul sagt, daß es keines ist." Als Paul die Erzählerin trotz verdeckter und offener Warnungen heiratet, setzen in der Motorenfabrik, in der er arbeitet, Schikanen gegen ihn ein; er wird schließlich wegen seiner illegalen Antennenproduktion angezeigt und aus seinem Betrieb entlassen: "Paul wird mitbestraft." Schon immer hat er viel getrunken; als er aber seinen Beruf und dann in einem offenbar vom Geheimdienst inszenierten Unfall auch noch sein Motorrad - das Glücks- und Freiheitssymbol des Romans - verliert, kommt er aus dem Suff kaum noch heraus.
Und doch ist Paul nun, nachdem ihre Freundin Lilli bei einem Fluchtversuch getötet worden ist, der einzige Mensch, dem die Frau noch trauen kann. Aber am Ende ihrer Fahrt zu dem Verhör, die sie durch einen Zufall eine Station über ihr Ziel hinausführt, verliert sie auch dies Vertrauen und damit ihren letzten Halt. Die Angst hat gesiegt. Am Schluß steht der Wahn als Chiffre für das unter dem Druck der Wirklichkeit zerbrechende Gefühl. So der aus den kunstvoll ineinandergefügten Erinnerungsfragmenten und Episodenreihen, die durch das Aus- und Einsteigen der Fahrgäste an den Haltestationen der Straßenbahn rhythmisiert werden, erschließbare Lebenslauf im Zeichen des ständig zum Scheitern verurteilten bescheidenen Glücksanspruchs, die Erzählung einer katastrophalen lebensgeschichtlichen Engführung.
Herta Müller hat einen Roman vom verkehrten Glück in einer verkehrten Welt geschrieben. Er schließt sich mit seinen beiden Vorgängern "Der Fuchs war damals schon der Jäger" (1992) und "Herztier" (1994) zu einer Trilogie vom Leben in der Diktatur zusammen. Wieder steht die traumatische Erfahrung der Unterhöhlung selbst der persönlichsten zwischenmenschlichen Beziehungen und der Zerstörung aller Vertrauensverhältnisse durch den totalen Überwachungsstaat im Zentrum der Erzählung. Doch während die Protagonisten der vorangegangenen Bücher Intellektuelle waren, die die Mechanismen des Staates zu durchschauen in der Lage waren - eine Lehrerin, eine Übersetzerin mit ihren Freunden -, wird in Herta Müllers neuem Buch eine Fabrikangestellte einzig deshalb zum Opfer der Strategien des totalen Staates, weil sie ihr privates Glücksverlangen zu realisieren versucht. Sie ist keine Oppositionelle, sie weiß nicht, was der Major von ihr will. Um so schutzloser ist sie den Mechanismen der Geheimpolizei preisgegeben, und um so schwärzer wird der Albtraum, in den sie stürzt. Am Ende bedarf es nicht einmal mehr des Verhörs, um sie zu zerbrechen.
Auch in dem neuen Buch gelingen Herta Müller Bilder tiefer Verstörung von beklemmender Dichte. Wenn das sprachliche Material insgesamt im Vergleich zu den vorangegangenen Büchern ausgedünnt erscheint, so erklärt sich dies gewiß auch daraus, daß Herta Müller erzählerisch zu beglaubigen hatte, daß das Ganze aus der Perspektive einer Frau ohne größere Bildung erzählt wird. Problematischer ist, daß die gesamte Erzählung im Topos der verkehrten Welt fundiert erscheint, den die Erzählerin auch selbst bemüht. Im mundus perversus aber hat die Frau, die hier von ihrer vergeblichen Glückssuche erzählt, von Anbeginn keine Chance, und so schwankt denn auch der gesamte Roman unentschieden zwischen Sozialkolportage und literarischer Totalitarismuskritik hin und her.
Herta Müller zeichnet eine Welt, in der jegliches Glücksverlangen ins Leere läuft. Es ist dies eine Welt, in der sämtliche privaten und öffentlichen Lebensverhältnisse verrottet sind. Da geht das Trauma in Serie: Die beste Freundin der Erzählerin schläft zwei Jahre lang mit ihrem Stiefvater. Und die Erzählerin, die ein ungewolltes Kind ist ("Wenn dein Bruder gelebt hätte, wärst du nicht gekommen.") und mit einer entsprechenden Prädisposition für Schuldgefühle kämpfen muß, möchte in ihrer Liebessehnsucht gern mit ihrem Vater schlafen: "Ich bin feiner als die mit dem Zopf, dachte ich, warum nimmt Tata nicht mich." Nicht schlafen möchte sie dagegen mit ihrem Schwiegervater, obgleich der ihr beständig entsprechende Angebote macht.
So sind die Familien in Herta Müllers Buch, und jenseits der Familien sieht es nicht besser aus. Tod und Wahnsinn, Lüge und Verrat, Demütigung und Suff, all dies wird auf den 240 Seiten dieses Buchs pastos aufeinandergeschichtet, und wenn dies noch nicht reicht, wird eine Figur einzig zu dem Zweck in die Handlung eingeführt, damit sie im Bad kotzen kann. Sehr rasch hat der Leser begriffen, daß sich Herta Müllers Roman immer für die schlimmstmögliche Variante entscheidet. Deshalb wird ihn schon bald nichts mehr überraschen, denn: "Das Mißlingen des Glücks läuft fehlerfrei und hat uns gebeugt. Glück ist eine Zumutung geworden und mein verkehrtes ein Hinterhalt." So ist es, das Mißlingen des Glücks läuft in diesem Roman fehlerfrei, denn seine Autorin hat es mit äußerster Konsequenz inszeniert. Unerbittlich steuert sie ihre Heldin in die Ausweglosigkeit: "Diese Stille nach dem Glück, sie kam, als kriegten die Möbel eine Gänsehaut. Wir fielen aufs Gesicht, in die Ausweglosigkeit zurück, Paul vorneweg. Er hatte immer Angst, daß wir uns an Glück gewöhnten."
Wie die Zitate zeigen, tritt in Herta Müllers neuem Buch ihre Kraft zur sinnlichen Vergegenwärtigung und ihre Freude an der Metaphorik, die ihre Prosa ihr unverwechselbares Gepräge verleiht, zugunsten einer fatalen Neigung zurück, den Sinn der Erzählung immer wieder offen auszusprechen: "Ja, so hätten wir es gern, daß wir die Krone tragen und die Welt satt werden. Aber ist es nicht umgekehrt, daß die Welt uns satt wird und nicht wir sie." Gewiß, so ist es, aber viel mehr ist dann auch nicht zu sagen. In einer solchen Welt sinken die ihr abzugewinnenden Lebensweisheiten auch leicht zu Toilettensprüchen herab: "Hier drin war man gut aufgehoben. Weniger als das, was unter den Füßen stinkt, kann man nicht werden . . . Erst draußen war ich ein Stück Menschendreck." Das soll drastisch und lebensnah klingen und zeigt doch, daß die das Buch durchziehende Klage von einiger Routiniertheit ist.
Herta Müllers neuer Roman weist Anzeichen einer künstlerischen Stagnation auf. Zwar wird die Geschichte vom Mißlingen des Glücks im Lebensalltag der rumänischen Diktatur verankert, doch beginnt sich der Motivvorrat aus dem "mitgebrachten Land", das sie 1987 verlassen hat, zu erschöpfen, und manche Motivkonstellation ist dem Leser aus früheren Büchern bereits vertraut. Zu Ende des Buchs heißt es: "Über gelaufene Jahre läßt sich gut reden, wenn sie schlecht gelaufen sind. Doch wenn man sagen müßte, wer man jetzt beim Atmen ist, läge der Zunge entlang nichts als mulmiges Schweigen." Welcher Verehrer dieser großen Erzählerin wüßte nicht gern, wer Herta Müller jetzt beim Atmen ist?
Herta Müller: "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 240 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herta Müllers Roman aus der Diktatur / Von Ernst Osterkamp
Eine Frau fährt in einer rumänischen Großstadt zum Verhör. Sie hat diese Fahrt schon oft machen müssen und Rituale der Vorbereitung entwickelt, die ihr die Angst einzudämmen helfen. An diesem Donnerstag ist die Angst besonders groß. Vorsorglich hat sie Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste eingepackt: für den Fall, daß Major Albu, der sie einbestellt hat, sie diesmal nicht mehr nach Hause läßt. Sie steigt in die Straßenbahn ein, die Fahrt zum Verhör wird zum Albtraum, Endstation Irrsinn.
Auf der Fahrt zieht ihr Leben an ihr vorüber: ein dunkler Bewußtseinsstrom, auf den die Erinnerung an die seltenen Augenblicke des Glücks matte Glanzlichter wirft. Ihr Glücksverlangen richtet sich zunächst auf den geliebten Vater, einen Busfahrer, aber der betrügt seine Frau nach Feierabend in seinem Gefährt lieber mit einer ehemaligen Schulkameradin seiner Tochter. Aus der Ehe, in die sie nach dem Tod des Vaters flieht, bricht sie nach drei Jahren wieder aus. Der Mann, an den sich ihre Liebe zufällig geheftet hat, wird ihr rasch gleichgültig; die Großfamilie wird regiert vom Schwiegervater, der sich eine Geliebte hält, die ebenfalls im Alter der Erzählerin ist und sich beruflich der Schädlingsbekämpfung widmet. Dieser schillernde Patriarch, der im übrigen auch seine Schwiegertochter gerne spüren läßt, "was er in der Hose hat", war in einer früheren Phase seiner gebrochenen Karriere berüchtigt als "Parfümkommunist"; er war in den fünfziger Jahren als für Enteignungen zuständiger Parteiaktivist verantwortlich für die Deportation zahlreicher Menschen in die Lager, darunter auch der Großeltern der Erzählerin. Nach der Trennung von ihrem Mann geht die Frau, die in einer Konfektionsfabrik arbeitet, für kurze Zeit ein liebloses Verhältnis mit einem Arbeitskollegen ein. Als sie sich weigert, weiter mit ihm ins Bett zu gehen, zeigt er sie an, weil sie Zettel mit ihrer Adresse in für Italien bestimmte Anzüge gesteckt hat, in der Hoffnung, ein Italiener werde so auf sie aufmerksam und sie heiraten. Sie wird entlassen; die Verhöre beginnen.
Zuvor aber hat sie auf dem Flohmarkt Paul kennengelernt, der nach Feierabend illegal Antennen für die Budapester und Belgrader Fernsehprogramme baut und ein rotes Motorrad besitzt. Auf Fahrten mit Paul kann sie für Augenblicke "dumm werden vor Glück". Doch ist dies ein kleines, armes, immer gefährdetes Glück: "Mit dem Glück habe ich mich abgefunden, auch wenn Paul sagt, daß es keines ist." Als Paul die Erzählerin trotz verdeckter und offener Warnungen heiratet, setzen in der Motorenfabrik, in der er arbeitet, Schikanen gegen ihn ein; er wird schließlich wegen seiner illegalen Antennenproduktion angezeigt und aus seinem Betrieb entlassen: "Paul wird mitbestraft." Schon immer hat er viel getrunken; als er aber seinen Beruf und dann in einem offenbar vom Geheimdienst inszenierten Unfall auch noch sein Motorrad - das Glücks- und Freiheitssymbol des Romans - verliert, kommt er aus dem Suff kaum noch heraus.
Und doch ist Paul nun, nachdem ihre Freundin Lilli bei einem Fluchtversuch getötet worden ist, der einzige Mensch, dem die Frau noch trauen kann. Aber am Ende ihrer Fahrt zu dem Verhör, die sie durch einen Zufall eine Station über ihr Ziel hinausführt, verliert sie auch dies Vertrauen und damit ihren letzten Halt. Die Angst hat gesiegt. Am Schluß steht der Wahn als Chiffre für das unter dem Druck der Wirklichkeit zerbrechende Gefühl. So der aus den kunstvoll ineinandergefügten Erinnerungsfragmenten und Episodenreihen, die durch das Aus- und Einsteigen der Fahrgäste an den Haltestationen der Straßenbahn rhythmisiert werden, erschließbare Lebenslauf im Zeichen des ständig zum Scheitern verurteilten bescheidenen Glücksanspruchs, die Erzählung einer katastrophalen lebensgeschichtlichen Engführung.
Herta Müller hat einen Roman vom verkehrten Glück in einer verkehrten Welt geschrieben. Er schließt sich mit seinen beiden Vorgängern "Der Fuchs war damals schon der Jäger" (1992) und "Herztier" (1994) zu einer Trilogie vom Leben in der Diktatur zusammen. Wieder steht die traumatische Erfahrung der Unterhöhlung selbst der persönlichsten zwischenmenschlichen Beziehungen und der Zerstörung aller Vertrauensverhältnisse durch den totalen Überwachungsstaat im Zentrum der Erzählung. Doch während die Protagonisten der vorangegangenen Bücher Intellektuelle waren, die die Mechanismen des Staates zu durchschauen in der Lage waren - eine Lehrerin, eine Übersetzerin mit ihren Freunden -, wird in Herta Müllers neuem Buch eine Fabrikangestellte einzig deshalb zum Opfer der Strategien des totalen Staates, weil sie ihr privates Glücksverlangen zu realisieren versucht. Sie ist keine Oppositionelle, sie weiß nicht, was der Major von ihr will. Um so schutzloser ist sie den Mechanismen der Geheimpolizei preisgegeben, und um so schwärzer wird der Albtraum, in den sie stürzt. Am Ende bedarf es nicht einmal mehr des Verhörs, um sie zu zerbrechen.
Auch in dem neuen Buch gelingen Herta Müller Bilder tiefer Verstörung von beklemmender Dichte. Wenn das sprachliche Material insgesamt im Vergleich zu den vorangegangenen Büchern ausgedünnt erscheint, so erklärt sich dies gewiß auch daraus, daß Herta Müller erzählerisch zu beglaubigen hatte, daß das Ganze aus der Perspektive einer Frau ohne größere Bildung erzählt wird. Problematischer ist, daß die gesamte Erzählung im Topos der verkehrten Welt fundiert erscheint, den die Erzählerin auch selbst bemüht. Im mundus perversus aber hat die Frau, die hier von ihrer vergeblichen Glückssuche erzählt, von Anbeginn keine Chance, und so schwankt denn auch der gesamte Roman unentschieden zwischen Sozialkolportage und literarischer Totalitarismuskritik hin und her.
Herta Müller zeichnet eine Welt, in der jegliches Glücksverlangen ins Leere läuft. Es ist dies eine Welt, in der sämtliche privaten und öffentlichen Lebensverhältnisse verrottet sind. Da geht das Trauma in Serie: Die beste Freundin der Erzählerin schläft zwei Jahre lang mit ihrem Stiefvater. Und die Erzählerin, die ein ungewolltes Kind ist ("Wenn dein Bruder gelebt hätte, wärst du nicht gekommen.") und mit einer entsprechenden Prädisposition für Schuldgefühle kämpfen muß, möchte in ihrer Liebessehnsucht gern mit ihrem Vater schlafen: "Ich bin feiner als die mit dem Zopf, dachte ich, warum nimmt Tata nicht mich." Nicht schlafen möchte sie dagegen mit ihrem Schwiegervater, obgleich der ihr beständig entsprechende Angebote macht.
So sind die Familien in Herta Müllers Buch, und jenseits der Familien sieht es nicht besser aus. Tod und Wahnsinn, Lüge und Verrat, Demütigung und Suff, all dies wird auf den 240 Seiten dieses Buchs pastos aufeinandergeschichtet, und wenn dies noch nicht reicht, wird eine Figur einzig zu dem Zweck in die Handlung eingeführt, damit sie im Bad kotzen kann. Sehr rasch hat der Leser begriffen, daß sich Herta Müllers Roman immer für die schlimmstmögliche Variante entscheidet. Deshalb wird ihn schon bald nichts mehr überraschen, denn: "Das Mißlingen des Glücks läuft fehlerfrei und hat uns gebeugt. Glück ist eine Zumutung geworden und mein verkehrtes ein Hinterhalt." So ist es, das Mißlingen des Glücks läuft in diesem Roman fehlerfrei, denn seine Autorin hat es mit äußerster Konsequenz inszeniert. Unerbittlich steuert sie ihre Heldin in die Ausweglosigkeit: "Diese Stille nach dem Glück, sie kam, als kriegten die Möbel eine Gänsehaut. Wir fielen aufs Gesicht, in die Ausweglosigkeit zurück, Paul vorneweg. Er hatte immer Angst, daß wir uns an Glück gewöhnten."
Wie die Zitate zeigen, tritt in Herta Müllers neuem Buch ihre Kraft zur sinnlichen Vergegenwärtigung und ihre Freude an der Metaphorik, die ihre Prosa ihr unverwechselbares Gepräge verleiht, zugunsten einer fatalen Neigung zurück, den Sinn der Erzählung immer wieder offen auszusprechen: "Ja, so hätten wir es gern, daß wir die Krone tragen und die Welt satt werden. Aber ist es nicht umgekehrt, daß die Welt uns satt wird und nicht wir sie." Gewiß, so ist es, aber viel mehr ist dann auch nicht zu sagen. In einer solchen Welt sinken die ihr abzugewinnenden Lebensweisheiten auch leicht zu Toilettensprüchen herab: "Hier drin war man gut aufgehoben. Weniger als das, was unter den Füßen stinkt, kann man nicht werden . . . Erst draußen war ich ein Stück Menschendreck." Das soll drastisch und lebensnah klingen und zeigt doch, daß die das Buch durchziehende Klage von einiger Routiniertheit ist.
Herta Müllers neuer Roman weist Anzeichen einer künstlerischen Stagnation auf. Zwar wird die Geschichte vom Mißlingen des Glücks im Lebensalltag der rumänischen Diktatur verankert, doch beginnt sich der Motivvorrat aus dem "mitgebrachten Land", das sie 1987 verlassen hat, zu erschöpfen, und manche Motivkonstellation ist dem Leser aus früheren Büchern bereits vertraut. Zu Ende des Buchs heißt es: "Über gelaufene Jahre läßt sich gut reden, wenn sie schlecht gelaufen sind. Doch wenn man sagen müßte, wer man jetzt beim Atmen ist, läge der Zunge entlang nichts als mulmiges Schweigen." Welcher Verehrer dieser großen Erzählerin wüßte nicht gern, wer Herta Müller jetzt beim Atmen ist?
Herta Müller: "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 240 S., geb., 39,80 DM.
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