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Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. "Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15º C." So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher…mehr

Produktbeschreibung
Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. "Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15º C." So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen.
Autorenporträt
Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis. Ihr Werk wurde in über 50 Sprachen übersetzt und erscheint auf Deutsch bei Hanser, zuletzt die Collagenbände Im Heimweh ist ein blauer Saal (2019) und Der Beamte sagte (2021) sowie Eine Fliege kommt durch einen halben Wald (2023).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2009

Wo Sprache die letzte Nahrung ist

Jeder ist sich selbst der Nächste und kennt sich doch nicht mehr: Herta Müllers Roman "Atemschaukel" über die Schrecken eines stalinistischen Arbeitslagers ist ein Manifest der Erinnerung von einer Intensität, die in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht ihresgleichen hat.

Von Michael Lentz

Der Nullpunkt ist das Unsagbare. Wir sind uns einig, der Nullpunkt und ich, dass man über ihn selbst nicht sprechen kann, höchstens drum herum. Das aufgesperrte Maul der Null kann essen, nicht reden." Herta Müllers "Atemschaukel" ist die fiktionale Autobiographie des am 15. Januar 1945 im Alter von siebzehn Jahren von Hermannstadt ins ukrainische Lager Nowo-Gorlowka deportierten Leopold Auberg. Sie setzt knapp hinter dem existentiellen Nullpunkt an, und das mit einem so hochartifiziellen wie wirklichkeitssensiblen Sprachbewusstsein.

"Es war das große innere Fiasko, dass ich jetzt auf freiem Fuß unabänderlich allein und für mich selbst ein falscher Zeuge bin." Der gegen Ende des Romans aus der Perspektive des zweiundzwanzigjährigen Leopold formulierte Satz ist die Erfahrungssumme der Selbstentfremdung, Heimatlosigkeit und irreparablen Beschädigung nach fünf Jahren Lagerhaft. Für sich selbst ein falscher Zeuge sein - diese paradoxe Denkfigur zeigt den alles überdeckenden Hereinbruch der Vergangenheit in die Gegenwart, wie ihn dieser Roman intensiv und plausibel vor Augen führt.

Gegenwart ist hier zu einem bloßen Erinnern geworden, das sich selbst nicht begreift. Dass eine solchermaßen kontaminierte Vergangenheit auch den imaginären Raum der Schlaflosigkeit besetzen kann, darüber reflektiert der Ich-Erzähler Leo Auberg im zweiten der insgesamt 64 kurzen Kapitel: "Seit sechzig Jahren will ich mich in der Nacht an die Gegenstände aus dem Lager erinnern. Ich weiß nur seit sechzig Jahren nicht, ob ich nicht schlafen kann, weil ich mich an die Gegenstände erinnern will, oder ob es umgekehrt ist."

Die historischen Hintergründe dieser Schlaflosigkeit werden nur so weit erzählt, als es für Leos Geschichte unabdingbar ist. Das bis dahin mit Hitler verbündete Rumänien schlug sich im August 1944 auf die Seite der Sowjetunion und der Alliierten. Die Deportation blieb über viele Jahrzehnte in Rumänien ein Tabu, erinnerte sie doch an die faschistische Vergangenheit des Landes. Dass die Deportation der insgesamt fast 80 000 Rumäniendeutschen im Alter von 17 bis 45 Jahren in die Sowjetunion Stalins höchstpersönlicher Plan war und nicht auf Anweisung der rumänischen Regierung erfolgte, wie viele aufgrund der Tabuisierung glaubten, wird im Buch nicht direkt thematisiert, wohl aber die Identifizierung der Siebenbürger Sachsen mit der nationalsozialistischen Ideologie. Der historische Zusammenhang scheint dennoch subtil auf, etwa in der Metamorphose eines Bildes von Stalin, das am Schrank des Lagerkapos klebt. Für Leo hat der sowjetische Diktator auf dem Bild "hohe graue Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrücke, sein Schnauzbart wie eine Schwalbe" - Stalin als Personifikation des Lagers.

Ein Grammophonkistchen dient als Koffer, in den Leo sein Hab und Gut für das Lager verstaut: "den Faust in Leinen, den Zarathustra, den schmalen Weinheber und die Sammlung Lyrik aus acht Jahrhunderten". Dass die Bücher im Koffer den Untergrund bilden für die wenigen anderen Utensilien, ist ein frühes Signal des Romans für die subversive Kraft der poetischen Sprache, der ein überragendes Denkmal gesetzt wird.

Der von den Frauen auf der strapaziösen mehrwöchigen Fahrt ins Lager gesungene "Viehwaggonblues" soll für Leo "das allerlängste Lied in meinem Leben" werden, "fünf Jahre lang haben die Frauen es gesungen": "Im Walde blüht der Seidelbast, / im Graben liegt noch Schnee, / das du mir heut geschrieben hast, / das Brieflein tut mir weh." Mit dem "Brieflein" dieser ersten Strophe eines Gedichts von Hermann Hesse wird es eine besondere Bewandtnis haben: Ein einziges Mal bekommt Leo Post ins Lager, eine "Rot-Kreuz-Postkarte", an der "mit weißem Zwirn ein Foto angenäht" ist. Geschrieben von der Mutter, steht unter dem Foto ein einziger Satz: "Robert, geb. am 17. April 1947." Ein Ersatzbruder. Für Leo wandelt sich der Satz zu: "Meinetwegen kannst du sterben, wo du bist, zu Hause würde es Platz sparen."

Sehnsucht wie Heimweh werden von den Lagerinsassen abgedrängt in Kunstvolkslieder wie "Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde" von Bruno Hardt-Warden oder Seemannslieder wie "La Paloma" von Hans Albers, gesungen von "der Loni Mich" bei den ab und an gegönnten Tanzabenden. Keiner der Verfasser wird genannt, die Gedichte und Lieder mit ihrer affektiven Poetik sind zum überlebenswichtigen Allgemeingut geworden.

Der Terror des Hungers.

Im Lager findet sich eine "interlope Gesellschaft", wie es im Buch heißt, eine buntgemischte Zwangsgemeinschaft. Da ist der aufgrund seines Berufes privilegierte Rasierer Oswald Enyeter, der Akkordeonspieler Konrad Fonn, der Trommler Anton Kowatsch; David Lommer, genannt "der Zither-Lommer"; Irma Pfeifer, die in der Mörtelgrube umkommt; Trudi Pelikan, die wie Leo aus Hermannstadt stammt, die schwachsinnige Planton-Kati, die, von allen geachtet, fünf Jahre lang nicht weiß, wo sie ist; Peter Schiel, der am selbstgebrannten Steinkohleschnaps stirbt; Bea(trice) Zakel, die Geliebte des Lagerkapos. Der schweigsame Karli Halmen stiehlt Albert Gion, mit dem Leo im Schlackekeller arbeitet, das "gesparte Brot" und wird dafür von den Barackenmitbewohnern zusammengeschlagen. Der Advokat Paul Gast isst seiner Frau Heidrun die tägliche Suppenration weg und trägt ihren Mantel "mit dem Bubikragen", nachdem sie gestorben ist: "Die Heidrun Gast hatte schon das Totenäffchengesicht, das Schlitzmaul von einem Ohr zum anderen, den weißen Hasen in den Dellen der Wangen und gequollene Augen." Jeder ist sich letztlich selbst der Nächste und kennt sich selbst nicht mehr.

In der siebenbürgischen Sagenwelt ist ein Prikulitsch ein Mensch, der sich in ein werwolfartiges dämonisches Wesen verwandelt. Nicht umsonst heißt der mitinternierte karpato-ukrainische Lagerkapo, der als einziger Repräsentant der Macht nicht anonymisiert bleibt, Artur (Tur) Prikulitsch. Die Vorgänge und Materialien der Zwangsarbeit wie zum Beispiel Kohle, Zement, Sand, Schlackoblocksteine oder die Kellerschlacke werden mit einer sprichwörtlich ungeheueren Präzision beschrieben, einer Mischung aus dokumentarischer Akribie, auch was die Auswirkungen auf den Körper betrifft, und hungerinduzierter Phantasmagorie. Die in der Analogisierung zum Tango, Fechten und Walzer gipfelnden Anleitungen zum Kohleschaufeln zeigen in ihrem todtraurigen Enthusiasmus die Notwendigkeit einer Ökonomisierung jedweder Bewegung, gilt doch die Energieformel: 1 Schaufelhub verbraucht 1 Gramm Brot.

"Wir sind das Gestell für den Hunger" - Den Terror des Hungers fasst Herta Müller in Bilder extrem beanspruchter Physis, die dem Leser zu Leibe rücken. Eine der größten Illusionen im Lager ist der Brottausch: Jeder fühlt sich übervorteilt und versucht, mit dem anderen seine Ration zu tauschen. Nach dem Tausch fühlt er sich dann erst recht betrogen.

Wenn real gar nichts mehr vorhanden ist, was als Nahrung dienen könnte, nicht einmal Kartoffelschalen oder Meldekraut, setzt die Sprache ein. Ein Essen aus bloßen Wörtern muss dann genügen: "Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus, Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels." "Ich esse einen kurzen Schlaf", sagt Leo einmal. Andere essen Sand oder Kot.

Der Hunger löst halluzinatorische Projektionen aus: "Jeder Gegenstand glich in Länge, Breite, Höhe und Farbe dem Ausmaß meines Hungers." Zugleich nötigt der Hunger zu einer nüchternen, aller Illusionen beraubten Bestandsaufnahme: "Die Anteilnahme am Hunger der anderen ist null, mithungern kann man nicht." Denn selbst der "eigene Hunger ist für jeden eine fremde Macht".

Als Leo Auberg Anfang Januar 1950 nach Hermannstadt zurückkehrt, macht er die paradoxe Erfahrung, dass sich die "Heimwehlosigkeit", die er sich im Lager regelrecht selbst anerzogen hatte, in ein bedrohliches Heimweh verkehrt hat: "Alles sah, dass mein herrenloses Heimweh nicht wegging." Die Lagererfahrungen werden zur unkontrollierbaren Dominante jedweder Wahrnehmung, bis in die Träume und ihre Gestalten hinein. Das Ticken der Uhr im Wohnzimmer des Elternhauses wird zur "Atemschaukel", in seiner Brust zur "Herzschaufel". In den Kisten, die er ein Jahr lang in einer Fabrik zusammensetzt, erkennt er nur "kleine Särge aus frischem Fichtenholz".

Unter dem Decknamen "das Klavier" sucht Leo wieder das einst geliebte Neptunbad auf, ist unterwegs in ein altes Leben, von dem er weiß, dass er es nicht mehr wird fortsetzen können: Er ist "das Klavier, das nicht mehr spielt". Die Besuche des Stadtbades und ihre Hintergründe bilden die Rahmenerzählung des Romans. Wirkte die Deportation auf ihn zunächst wie eine Erlösung von seiner stets präsenten Angst, bei den homosexuellen "Rendezvous" im Bad erwischt und mit Gefängnis bestraft zu werden, so hätte im Lager bereits das Eingeständnis der Homosexualität den Tod bedeutet. Leo wird zum innerlich unerreichbaren "Nichtrührer".

Ursprünglich wollten Herta Müller und der Dichter Oskar Pastior gemeinsam einen Roman über die Deportationen schreiben. Pastior war ebenso wie Herta Müllers Mutter fünf Jahre lang Zwangsarbeiter in sowjetischen Lagern. Am 4. Oktober 2006 starb Oskar Pastior, Herta Müller schrieb den Roman alleine. "Atemschaukel" basiert auf Gesprächen mit ehemals Deportierten und vor allem auf mündlichen Erinnerungen des Büchnerpreisträgers, die Herta Müller in mehrere Hefte notierte.

In einem Kapitel gibt die Autorin Einblicke in diese von ihr im Nachwort erwähnten Hefte: Nach seiner Rückkehr schreibt Leopold Auberg, dessen Schicksal einige Parallelen zum Leben Pastiors aufweist, zunächst ein drei "Diktandohefte" langes Vorwort, das er nach seitenlangen Ausführungen über den rettend-quälenden "Hungerengel", eine Wortschöpfung Pastiors, direkt in "Nachwort" abändert - für sich selbst ist er eben ein falscher Zeuge. "Atemschaukel", das sind gewissermaßen die auserzählten Diktandohefte Leo Aubergs, und so gibt es eine reale und einer fiktionalisierte beziehungsweise synthetisierte Autorschaft. Dieses Kapitel ist eine poetische Poetologie des Romans, indem es über dessen Konstruktion und Sprache Auskunft gibt - ganz im Sinne Oskar Pastiors, dessen Texturen oftmals Poesie und Poetik in einem sind, gleichsam ihre eigene Gebrauchsanweisung.

Initiation eines Schriftstellers.

Hier erfährt man etwas über das Weglassen von (historischen, biographischen) Details und das Hinzuerfinden von Begebenheiten ebenso wie über die auratische Verselbständigung einzelner Wörter und Sätze: "Schau, wie der heult, dem läuft was über." Diesen Satz schreibt Leo auf eine leere Seite, streicht ihn anderntags durch, schreibt ihn wieder hin und so weiter, reißt das vollgeschriebene Blatt aus dem Heft heraus und kommentiert diese Schrift-Aktion mit den Worten: "Das ist Erinnerung." Erinnerung ist ein Paradox, sie ist ein reales Konstrukt, Erinnerung an die Erinnerung und nachträgliche Deutung.

Die Metapher des Überlaufens ist charakteristisch für das sprachliche Verfahren des Romans. Er verdinglicht und verwandelt innere wie äußere Prozesse, die bedrohlich bis zur Vernichtung sind, und die selbstwahrnehmenden Reaktionen darauf. Neben dem "Hungerengel" und der titelgebenden "Atemschaukel" finden sich im Roman Wortverbindungen wie "Herzschaufel", "Tageslichtvergiftung" oder "Hautundknochenzeit", wobei "Herzschaufel" ein aus dem Gartenbau oder der Gärtnerei vertrauter Terminus technicus ist, manch einem auch bekannt als "Stalins-Herz-Schaufel".

Diese Metaphern, die recht konkrete Vorstellungen heraufbeschwören, sind für Leo mehr als Wortschätze, die ihm keiner mehr rauben kann, sie haben sich so in seine Einbildungskraft gebrannt, dass sie bereits wieder Realität sind. Durch diese kreativen Konstruktionen ordnet er seine Umwelt und macht sie weniger bedrohlich. Wörter sind sein Ordnungssystem - das einzige, das ihm geblieben ist. Erinnerungen können mittels dieser Wörter versuchsweise gebannt werden.

So kann der ganze Roman als ein sprachwirkliches Sinnbild begriffen werden: die "Atemschaukel" als energetisches Erinnerungszeichen. Zugleich zeichnet Herta Müller die Initiation eines Schriftstellers nach und stiftet dazu an, die Sprachkunst Oskar Pastiors zu verstehen als das, was sie zunächst ist: existentielle Poesie und nicht Sprachspiel.

Dieses Buch kann und will keine Dokumentation, kein historischer Roman sein und ist schon gar nicht einem naiven Abbildrealismus verpflichtet. Mit seinem dichten Motivnetz schafft der Roman eine Intensität und Präsenz, die ihresgleichen in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur nicht haben.

"Atemschaukel" ist mit Herzblut geschrieben. Es ist ein Manifest der Erinnerung und der Sprache, deren komplexes Verhältnis es auf ergreifende Weise bezeugt. Ein Meisterwerk.

Herta Müller: "Atemschaukel". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2009. 304 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2009

Das Lager ist eine praktische Welt
Ein europäisches Ereignis: Herta Müllers Roman „Die Atemschaukel” über die Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion nach 1945
Von seltsamen Dingen, erschreckenden Erscheinungen hören wir in diesem Roman, vom „Hungerengel” und vom „Blechkuss”, von „Kartoffelmenschen” und der „Atemschaukel”. Der Hungerengel sitzt immer mit am Tisch, wenn die Insassen des Lagers die karge Ration Brot verzehren, die ihnen die „Brotoffizierin” zugeteilt hat, quälend langsam essen die einen, verzweifelt schlingen die anderen; der Hungerengel wacht über ihren Schlaf, er geht durch ihre Träume, begleitet sie in die Fabrik und auf das Feld hinaus, wo sie schuften, bis sie umfallen und in die Grube gekippt werden oder sich irgendwie aufrecht halten, um dann bis zum nächsten Tag in ihre Baracken zurückzukehren.
Sie sind Sträflinge, ohne je verurteilt worden zu sein, und wissen anfangs nicht einmal, in welcher Weite der russischen Steppe sie sich befinden und was ihr Strafmaß ist. Erst nach fünf Jahren, 1950, ist die Haft für die, die nicht in die „Mörtelgrube” sprangen, nicht erschossen wurden, nicht verhungerten, zu Ende. Dann kehren sie heim und werden niemandem erzählen können, was ihnen widerfahren ist. Selbst wenn sie es schaffen, die Scham zu überwinden, und über die Jahre der Demütigung und Qual berichten wollen, finden sie keinen, der ihnen zuhören möchte. Denn über die Vergangenheit ist in ganz Rumänien, das im Zweiten Weltkrieg an der Seite Nazideutschlands stand und sich jetzt der großen kommunistischen Brudermacht ergeben hat, das Schweigen verhängt.
Im Winter 1945 wurden Abertausende Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in die Sowjetunion deportiert. Die Rote Armee requirierte sie als menschliches Material, das im Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Sowjetunion Verwendung finden sollte. In bestimmten Regionen waren es buchstäblich alle Frauen und Männer zwischen 17 und 45 Jahren, die verschleppt wurden und in Bergwerken, Kolchosen, Kombinaten als Zwangsarbeiter ums Überleben arbeiten mussten. Zahllose von ihnen sind verreckt und in namenlosen Gräbern verscharrt worden.
Doch ihr Schicksal blieb auch dann noch tabu, als sich das kommunistische Rumänien eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion errang. Denn wer an die Verbrechen, die an den Rumäniendeutschen nach 1945 von der Sowjetmacht verübt wurden, erinnern wollte, hätte auch daran erinnern müssen, dass Rumänien zuvor, im Zweiten Weltkrieg, ein faschistischer Staat gewesen ist. Und das passte nicht in das nationalkommunistische Projekt, das sich schon bald aller möglichen reaktionären Geister und Gespenster der Geschichte zu bemächtigen begann.
Herta Müller, die mit ihren rumäniendeutschen Landsleuten oft hart ins Gericht ging und nicht verhehlte, dass auch viele Sachsen und Schwaben unheilvoll in den Nationalsozialismus verstrickt waren, hat es nun auf sich genommen, denen eine Stimme zu geben, über deren Schicksal so lange und so gründlich geschwiegen wurde. Ihr neuer Roman erzählt von dem großen, kaum je benannten Unrecht, das den rumäniendeutschen Deportierten angetan wurde, von ihrer Entwürdigung im Lager, in der der einzelne seiner Individualität beraubt und zum Überlebens-Tier degradiert wurde, von dem Hunger, den sie alle litten und an dem viele starben. Es ist ein erschütternder Roman, das beste Buch, das Herta Müller, die schon für so viele Prosa- und Essaybände zu rühmen war, geschrieben hat, ein verstörendes Meisterwerk, mutig und sprachschöpferisch, ein Versuch, aus dem Inneren der Hölle zu sprechen, in einer ganz eigenen, bildstarken Sprache, die dort Worte finden muss, wo die herkömmlichen versagen, das Grauen nicht zu fassen vermögen.
Der Roman ist aus 64 kurzen Abschnitten gebaut, ein jeder von ihnen schreitet ein Revier des Lagers, eine Höllenstunde des Lageralltags, ein Gefühl, eine Verlorenheit, einen Schmerz der Inhaftierten aus. Herta Müller hat für die „Atemschaukel” mit den Deportierten ihres Dorfes gesprochen, vor allem aber hat sie sich von Oskar Pastior, der als Jugendlicher in die Sowjetunion verschleppt wurde, immer wieder vom Leben und Sterben im Lager erzählen lassen. So sollte ein gemeinsames Buch beider entstehen, doch nach dem überraschenden Tod des Dichters im Herbst 2006 musste Herta Müller mit ihren Notizen, Aufzeichnungen, Plänen alleine zurande kommen und ihr eigenes Buch verfassen, das zwar auch die Lagergeschichte von Oskar Pastior erzählt, aber dennoch nicht als Schlüsselroman gelesen werden sollte.
Der Roman setzt ein in der Nacht zum 15. Januar 1945. In der „Festhalle der Sachsen” hat sich gemäß sowjetischer Listen eine große Anzahl von Deutschen eingefunden. Ein junger Mann, Leopold Auberg, der Ich-Erzähler des Romans, verlässt die Familie und das heimatliche Hermannstadt gar nicht ungern, ist er doch im Stadtpark nächtens mit verschiedenen Männern intim geworden, ein Vergehen, das ihm weder der Staat noch seine Familie nachsehen würden. Am Bahnhof werden sie in Viehwaggons gesteckt, die Fahrt dauert zwölf Tage, ohne dass der Zug länger stehen bliebe; dafür steht er dann irgendwo tagelang, ohne dass es seiner menschlichen Fracht erlaubt wäre, kurz auszusteigen.
Die Deportierten, eine bunte, bald schon in das gleiche Grau des vorzeitigen Alterns, der Auszehrung und Apathie verkommene Gruppe, werden durch den Transport schockhaft jener Dehumanisierung ausgesetzt, die in den nächsten fünf Jahren schauerliche Folgen für sie haben wird. Die bürgerliche Dame, der Advokat, das schüchterne Mädchen, der homosexuelle Jugendliche - sie alle haben, wenn sie zwölf Tage lang ihre Notdurft im gemeinsamen Waggon verrichten mussten und stinkend, hungrig und durstig in der Nacht an einem unbekannten Ort ausgeladen und von schreienden Soldaten empfangen werden, einen Gutteil dessen, was für sie bürgerliche Sekurität und individuelles Selbstbewusstsein bedeutete, schon verloren. „Vielleicht wurde in dieser Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen”, wird Leopold Auberg später über die Fahrt im Viehwaggon sagen.
Ausgemergelt von der Arbeit und dem Hunger, zusammengepfercht in Schlafbaracken, verlieren die Zwangsarbeiter in den nächsten Monaten nicht nur alle Attribute ihres Standes, sondern auch die der Geschlechter: „Denn in der Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sind Männer und Frauen nicht zu unterscheiden und geschlechtlich stillgelegt . . . die Halbverhungerten sind nicht männlich oder weiblich, sondern objektiv neutral wie Objekte – wahrscheinlich sächlich.” Auch der Ich-Erzähler vergisst im Lager, was ihm in Hermannstadt Sorgen bereitete und ihn sehnsüchtig machte, dass er sich nämlich wider siebenbürgischen Anstand und schwäbische Sitte dem eigenen Geschlecht zugeneigt fühlte. Der Trieb, der stattdessen alles beherrscht, der schlicht die ganze Existenz in Besitz nimmt, ist der Nahrungstrieb: „Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.”
Herta Müller findet bestürzende Bilder, die Allgegenwart des Hungers im Denken, Fühlen, im Tun und Träumen der Hungernden zu fassen: „Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf.” Im Traum sind all die Darbenden auf Hochzeiten und essen sich durch das vielgängige Menü, die ganze siebenbürgische Speisekarte kehrt nächtens wieder. Wer den jahrelangen Hunger überlebt, bleibt gleichwohl in seinem Bannkreis: „Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.”
Im Lager Nowo-Gorlowka, irgendwo in der Steppe, herrscht eine penible bürokratische Ordnung, die periodisch durch reine Willkür verschärft wird. Über jeden Sack Zement, den die Häftlinge zu schleppen haben, muss abends genau abgerechnet werden, dabei gibt es für sie weder Anlass noch Gelegenheit, etwas vom Zement abzuzweigen. Aber die grammgenaue Abrechnung ist ein Mittel, permanenten Terror auszuüben und Zwietracht zwischen die Inhaftierten zu säen: „Höher als jede Wand wächst das Misstrauen.” Samstag nachts ist es besonders gefährlich, da feiert die Wachmannschaft und trinkt Schnaps, aus Spaß an der Sache wird bald mal jemand erschossen. Furchtbar ist aber auch die Justiz, die die Häftlinge untereinander üben, wobei der Diebstahl von Brot das schlimmste Verbrechen ist und von ihnen grausam geahndet wird.
Herta Müller lässt aus dem Chor der Inhaftierten die eine und andere Gestalt hervortreten: den gewalttätigen, seine Gunst willkürlich verteilenden Kapo Prikulitsch und seine Geliebte Bea, den Rasierer Enyeter, den Brotdieb Karli, dem alle Zähne ausgeschlagen werden, damit er nie mehr hartes Brot essen kann, und über den alle Insassen urinieren; den Zither-Spieler David Lommer, einen Juden, der versehentlich auf die Liste gekommen ist, die schwachsinnige Kati, die all die Jahre nicht wissen wird, wo sie ist und was mit ihr geschieht, den Advokaten Gast, der seiner Frau die Suppe stahl und der doch unschuldig daran war, dass sie verhungerte, denn nicht er hatte ihre Suppe gestohlen, sondern „sein Hunger konnte nicht anders”, als die Ehefrau um die überlebensnotwendigen Kalorien zu betrügen.
Trotz dieser scharf umrissenen Porträts zeigt Herta Müller jedoch einprägsam, dass in der Welt des Lagers die alte Vorstellung von einer Individualität, die es in einem Porträt voller unverwechselbarer Züge zu fassen gälte, zunichte wird. Das Individuum selbst wird zum Lagerwesen umgeformt, dem fast alles verloren geht, was jenes einst ausgemacht haben mag: „Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten.”
Nach vier Jahren wird es besser, die Zwangsarbeiter erhalten Lohn, können sich im nahen „Russendorf” Nahrung und Kleidung kaufen. „Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als wäre es die zweite Pubertät.” Nach fünf Jahren sind sie wieder daheim, sieht man von den 334 Toten ab, die „im Register der Krankenbaracke in Frieden ruhen”. Leopold Auberg wird zuhause ein „Nichtrührer”, er hält still und schweigt. Dieses Schweigen ist nun gebrochen worden, in einem kühnen Sprachkunstwerk, das seinesgleichen sucht in der europäischen Literatur unserer Zeit.KARL-MARKUS GAUSS
HERTA MÜLLER: Atemschaukel. Roman. Carl Hanser-Verlag, München 2009. 300 Seiten, 19,90 Euro.
„Vielleicht wurde in dieser Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen”
Herta Müller, 1953 in Nitzkydorf in Rumänien geboren, schreibt in ihrem Roman „Atemschaukel” über das Lager Nowo-Gorlowka. Dort herrscht eine penible bürokratische Ordnung. Über jeden Sack Zement, den die Häftlinge zu schleppen haben, muss abends genau abgerechnet werden. Fotos: Jürgen Bauer (oben), Plainpicture
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Einen Graben hat Herta Müllers Roman "Atemschaukel" offenbar durch die Redaktion der Zeit gezogen. Während Iris Radisch ihn als parfümiert und für seine "schaurig-schöne", aber unverbindliche Virtuosität schmäht, sieht Michael Naumann ihn als ein Meisterwerk an, das ihm schier den Atem geraubt hat. Müller erzählt darin die Geschichte der Deportation der Rumäniendeutschen in sowjetische Arbeitslager nach 1945. Begonnen hat sie diese Arbeit zusammen mit dem Dichter Oskar Pastior, der selbst fünf Jahre lang durch diese Hölle ging und 2006 im Laufe der gemeinsamen Arbeit verstarb. Naumann berichtet bewegt und beeindruckt von dieser "Chronik des ewigen Hungers", denn, so erkennt er als Logik aus diesem Bericht: "Wer für Nichts verurteilt wurde, muss auch nichts essen." Das Nichts bestehe in dieser "Hautundknochenzeit" meist aus Kartoffelschalen, Gras, und Unkraut. Erschüttert liest der Rezensent den Roman auch als Dokument der Einsamkeit, aber auch als Zeugnis der literarischer Empathie und der poetischen Genauigkeit. Was ihn aber am meisten für den Roman einnimmt, ist, wie großartig Herta Müller die selten gewordene Form der "dichterischen Empörung" beherrscht.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Das bedeutendste Werk, das im neuen Jahrhundert diese dunkle Erinnerung fortschrieb, ist der 2009 erschienene Roman 'Atemschaukel' von Herta Müller, im gleichen Jahr erhielt die Autorin den Literaturnobelpreis." Alexander Cammann, Die Zeit, 22.10.15

"Ein überwältigender, ergreifender, demütig machender Roman, die vielleicht nachhaltigste Leseerfahrung dieses Herbstes." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.07.09

"Ein sprachliches Kunstwerk, wie es das in diesem Herbst kaum ein zweites Mal geben dürfte. Wer es schafft, Herta Müllers bestürzenden, bedrückenden und - wegen seiner sprachlichen Kraft - beglückenden Roman zu Ende zu lesen, wird dieses Buch nie wieder vergessen." Hajo Steinert, Focus, 10.08.09

"Dass eine so arme Geschichte, dass ein so armes Lebensstück mit so viel Schönheit erzählt wird, ohne jeden Schnörkel, ganz der Wahrhaftigkeit verpflichtet, das macht nicht zuletzt die Größe dieses Romans aus." Jochen Jung, Der Tagesspiegel, 19.08.09

"Ein kühnes Sprachkunstwerk, das seinesgleichen sucht in der europäischen Literatur unserer Zeit." Karl-Markus Gauß, Süddeutsche Zeitung, 20.08.09

"Ein atemberaubendes Meisterwerk." Michael Naumann, Die Zeit, 20.08.09

"Die Lager sind ja eine menschliche Grenzerfahrung, die wir in ihrer Andersartigkeit gern in einem Dachspeicher unseres kollektiven Gedächtnisses verstauben lassen. Müller holt sie aus dieser Verdrängung heraus, gliedert sie mit ihrer Sprachkunst in unsere Kultur ein und macht sie der Trauer zugänglich." Ruth Klüger, Die Welt, 15.08.09

"Das Unsägliche von alltäglicher Angst in diktatorischer Gesellschaft, von Arrest, Folter und Mord auf eigentümliche Weise buchstäblich zur Sprache zu bringen ist die Kunst dieser Autorin." Michael Naumann, Die Zeit, 20.08.09

"Mit seinem dichten Motivnetz schafft der Roman eine Intensität und Präsenz, die ihresgleichen in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur nicht haben. Ein Manifest der Erinnerung und der Sprache, deren komplexes Verhältnis es auf ergreifende Weise bezeugt. Ein Meisterwerk." Michael Lentz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.09"Das macht 'Atemschaukel' so brillant: Müller verknappt die historischen Hintergründe zugunsten der Gedankengebilde. Ein relevanter und sprachlich furioser Roman." Nora Reinhardt, KulturSpiegel, 26.09.09

"Ein politischer Roman von bemerkenswerter psychologischer Subtilität, der den Nullpunkt der Existenz nachvollziehbar macht." Stefana Sabin, Neue Zürcher Zeitung, 27.09.09

"Ihr Werk, dessen Kraft sich aus dem Schrecken speist, ist zugleich reich an Schönheit und für den Leser ein großes Glück. So spricht Erinnerung, wenn sie lebendig ist. Es schnürt einem die Kehle zu und macht Luftsprünge aus Wörtern. Und es ist neben all dem Hunger, dem Elend, dem Sterben im Lager unglaublich viel vom Glück die Rede." Volker Weidermann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.10.09

"Das eine Werk, das in dieser Saison alle anderen überragt; eine herzzerreißende, demütig und bescheiden machende Lektüre. Wer nicht immun ist gegen Wahrhaftigkeit und Poesie, dem schenkt dieses Buch das Erlebnis großer Literatur; das Zeugnis einer Menschlichkeit, die den Einzelnen transzendiert. Solch tiefe Wirkung lässt sich nicht beabsichtigen oder gar planen; sie ist die Essenz großer Kunst - und ihre Erkenntnis steht jedem zu Gebote. Der Eindruck, den 'Atemschaukel' hinterlässt, ist ein bleibender. Der Nobelpreis für Herta Müller hat das auf triumphale Weise nur bestätigt." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.09
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