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Ein sehr persönliches Dokument wird zur spannenden Zeitreise: Seit fast zwanzig Jahren bekommt Günter Grass von seinem Verleger Blindbände geschenkt, Bücher mit leeren Seiten, die er per Hand mit ersten Fassungen seiner Texte füllt. Und er nutzt sie als Tagebuch und damit als Nährboden für seine Ideen. Mit dem Jahr 1990 begann Grass sein bis heute anhaltendes intensives Notieren.Nach dem Mauerfall war Deutschland im Umbruch, und Günter Grass wollte nah dran sein an der Stimmung unter den Menschen und den politischen Debatten. Er war viel unterwegs in der Noch-DDR, war präsent, wo über die…mehr

Produktbeschreibung
Ein sehr persönliches Dokument wird zur spannenden Zeitreise: Seit fast zwanzig Jahren bekommt Günter Grass von seinem Verleger Blindbände geschenkt, Bücher mit leeren Seiten, die er per Hand mit ersten Fassungen seiner Texte füllt. Und er nutzt sie als Tagebuch und damit als Nährboden für seine Ideen. Mit dem Jahr 1990 begann Grass sein bis heute anhaltendes intensives Notieren.Nach dem Mauerfall war Deutschland im Umbruch, und Günter Grass wollte nah dran sein an der Stimmung unter den Menschen und den politischen Debatten. Er war viel unterwegs in der Noch-DDR, war präsent, wo über die Zukunft und den Prozeß der Wiedervereinigung gesprochen wurde, pflegte einen regen Austausch mit seinen Kindern und Freunden. Das Tagebuch von Günter Grass gibt Einblicke in den Alltag eines Zeitgenossen, der im Bewußtsein des historischen Moments leidenschaftlich lebt und streitet. Es steckt voller Begegnungen, Beobachtungen und Gedanken; Ideen zu späteren Erzählwerken keimen hier auf und entfalten sich. Das Tagebuch ist ein erzählerisches Protokoll aus einer Zeit, da die Geschichte wieder mächtig in Bewegung geraten war.
Autorenporträt
Grass, GünterGünter Grass, 1927 bis 2015, wurde in Danzig geboren und war Schriftsteller, Bildhauer und Graphiker. 1999 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm u. a. Grimms Wörter, der Gedichtband Eintagsfliegen und die illustrierte Jubiläums-Ausgabe seines 1963 erstmals publizierten Romans Hundejahre. Bis kurz vor seinem Tod am 13. April 2015 arbeitete Grass noch intensiv an seinem Buch Vonne Endlichkait, das im August 2015 erschien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2009

Der Hut der Geschichte
1990 flieht Günter Grass vor Liebeswirren in die Politik, glücklicherweise erfolglos

Günter Grass' Tagebuch des Jahres 1990 erscheint unter dem Titel "Unterwegs von Deutschland nach Deutschland", beginnt und endet aber in Portugal, wo der Dichter ein Ferienhaus hat. Das Buch kommt zur rechten Zeit. Die Schulden für die Einheit sind abbezahlt, der Bund kann darangehen, frische Schulden zu machen, dieses Mal leider nicht, um Millionen von Landsleuten aus der unverschuldeten Unfreiheit zu helfen, sondern um Banker rauszuhauen, die die Freiheit für eine Droge hielten. Leider ist ihr Ruin aufgrund eines Tricks im System auch unser Ruin. Nun wird die Schuldenuhr wieder auf Anfang gestellt, es beginnt eine neue Zeit.

Aber noch etwas war, für die, die sich für Geschichte interessieren, offen, nämlich die Frage, weshalb sich ein Teil der nichtkommunistischen Linken damals vom geschichtlichen Zug in Richtung Einheit abgekoppelt hat. Die Frage bleibt, wohin sie eigentlich wollten und wo sie heute zum Stehen gekommen sind. Wohin wäre die Reise gegangen, wäre man damals Grass gefolgt? Algarve für alle? Und wie ist es da?

Schwierig, sagt das Tagebuch. Der Aufenthalt des Dichters und seiner Frau ist zunächst einmal eine Sache in Zahlen, und die, man denkt an Churchills "Albtraum der statistischen Kurven", haben es in sich: Siebenundachtzig Kakteen pflanzt Grass um das Haus herum, einen Dreiviertelliter Tinte holt er aus gleichnamigen Fischen, ja und da gibt es noch, wie er bedrückt zu Beginn des Buches schreibt, die "Wirrnis" namens "Großfamilie": Acht Kinder, davon sechs leibliche, verzeichnet Grass, und mit denen ist so weit alles okay, kommen aber noch "vier Mütter" hinzu, die natürlich nicht seine sind, obwohl Grass, wie sein unterdessen verstoßener Biograph Michael Jürgs schreibt, auch eine zweite, amerikanische Mutter hat, aber die ist jetzt nicht gemeint, sondern die vier ehemaligen und jetzigen Partnerinnen von Grass. Der also resümiert die Lage zu Anfang des Jahres: "Zwar sind die Kinder, doch nicht die Mütter unter einen Hut zu bringen."

So beginnt für ihn neun-null, als Deutschland etwa Jean-Luc Godard verführerisch blinkend erschien, weswegen er seinen Film "Allemagne Neuf Zero" genannt hat, so schön neu im Jahre null, aber der hatte eben auch keine vier Mütter und einen zu kleinen Hut. Problem scheint, dass die Großfamilie nur von dem, der ihr vorsteht als solche gesehen wird, die assoziierten Frauen halten in ihrem Plural, so der Eindruck bei der Lektüre, ganz gerne an der Paarkonstellation fest, und Grass' Ehefrau Ute eben auch. Dass während ihrer Zeit Günter Grass eine Tochter bekommt, deren Mutter Ingrid heißt, und Grass oft unterwegs zur Kleinfamilie in Berlin ist, hebt ihre Laune nicht. Der Hut sitzt eng und macht Kopfschmerzen, glücklicherweise bietet sich, so ist es ja die Art der Männer, die Weltgeschichte an, den Hut auf gar keinen Fall zu ziehen, sondern zu wechseln: Strohhut des zeichnenden Ferienhausbesitzers ab, Baskenmütze des Aktivisten auf. In die DDR soll es gehen, da will er längere Zeit Quartier nehmen, dort zeichnen und schreiben und sich ein Bild machen. Wenig Bock mitzukommen hat die Ehefrau, Grass notiert leicht beleidigt, er werde darum einen Schlafsack für sich allein kaufen.

Aus der parallelen Betrachtung von politischer Aktivität und ehelichem Stillstand lebte schon eines von Grass' interessantesten Büchern, das "Tagebuch einer Schnecke". Damals wurde das politische Ziel, der Wahlsieg Willy Brandts, in großer Euphorie erreicht, die Ehe aber, mit Anna, ging zu Ende. In diesem Buch läuft es umgekehrt: Die Ehe übersteht das schwierige Jahr, im Januar 1991 finden die beiden nach einer erneuten Krise wieder zueinander. In diesem Buch ist es der seltsame politische Ein-Mann-Ausflug gegen die Währungsunion, die Wiedervereinigung und den ausgerechnet unter Kohl, Mitterrand und Clinton als bedrohlich neoimperialistisch, revanchistisch und kolonialistisch empfundenen Westen, der scheitert. Dieser Ausgang der Sache ist für die Menschheit ein Glück - und für die Literatur jedenfalls kein Unglück, man liest den Band mit Staunen und Mitleid, das wechselnden Akteuren gilt.

Die häuslichen Verhältnisse kann man als Leser schwer einschätzen, die politischen und historischen Urteile hingegen stehen ungeschützt in der Landschaft herum wie Baumaterialien zu einem Pleiteprojekt. Nahezu jede Prognose haut daneben. Nicht allein die Wahlergebnisse fallen dramatisch anders aus als von Grass vermutet, auch die Personen, die Chancen und Risiken schätzt er mit eindrucksvollen und immer großen Worten falsch ein. Der erste Ost-Sozialdemokrat, der ihm positiv auffällt, ist Ibrahim Böhme. Als Wolfgang Schnur auffliegt, mag er es zunächst nicht glauben, hält es für eine neue Barschel-Affäre, ohne also die Dimension des Stasi-Problems zu umreißen. Er bangt um die Wiederwahl Oskar Lafontaines im Saarland wegen des schlechten Wetters am Wahltag, obwohl dessen absolute Mehrheit damals nur Außerirdische hätten verhindern können - oder, wie später geschehen, Lafontaine selbst. Zum Golfkrieg , als Saddam Kuweit überfallen hatte und mit einer internationalen Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten daraus vertrieben wurde, schreibt er: "Der Brutalität des irakischen Systems entspricht der kaum mehr verdeckte macht- und wirtschaftliche Interessensanspruch des Westens, verfeinert zwar, doch gleichfalls unmenschlich." Ob die Profitgier von Ölfirmen ebenso unmenschlich ist wie ein Regime, das routinemäßig foltern und vergewaltigen lässt, sollte man lieber die beurteilen lassen, die in solchen Verhältnissen leben müssen. Doch andere Leute nach ihrer Meinung zu fragen, ist nicht so seine Sache, obwohl einer der häufigsten Vorwürfe, die Grass in diesem Buch anderen macht, der ist, nicht zuhören zu können: ihm nicht zuhören zu können.

Bei einer Reise durch Polen, wo er einen Ehrendoktor verliehen bekommt und vom kaschubischen Teil seiner Familie herzlich gefeiert wird, schreibt er: "Nach dieser Reise verhängt mich doch Traurigkeit, die kommendes Unglück (für Polen, für uns alle) vorwegnimmt". Das ist vom Sommer 1990, dem, so zeigt der Blick ins Geschichtsbuch, die friedlichsten, freiesten, glücklichsten neunzehn Jahre der Geschichte Polens und Deutschlands folgen. Er selbst wird in dieser Zeit den Nobelpreis für Literatur erhalten, die Familie wächst und gedeiht. Aber dem Tagebuchschreiber wird, wenn es nicht gerade ums Kochen geht, immer nur blümerant. Bei der Lektüre eines indischen Romans, der bei Reclam Leipzig erschienen war, notiert er, dass mit dem Ende des Ostverlags sicher auch die indische Literatur nicht mehr gepflegt werden wird. Die blühte seitdem mit Arundhati Roy, Amitav Gosh und all den anderen einfach nur auf und ist weltweit eine der meistgelesenen und meistbewunderten Nationalliteraturen des Planeten.

Dass die Reisefreiheit, die er für sich als lebenswichtig erachtet, wegen der er gerne "zum Zigeuner konvertieren" möchte, nun auch Ostdeutschen, Polen, Kaschuben, Tschechen und Russen zuteilwird, eine Freude darüber sieht, fühlt und beschreibt er nicht. Für andere findet er Sesshaftigkeit und Festhalten am Althergebrachten gut. Sein Blick auf die DDR ist eine nostalgische Verlustgeschichte: der alte Fischer erlöst zu wenig für den Fang, das alte Bier ist verschwunden, die urigen Lädchen müssen bald Supermärkten weichen. Richtig lustig ist eine Stelle, an der Grass von einer Lesereise durch die DDR zurückkommt und in Berlin einen seiner Söhne trifft. Der junge Mann könnte etwas Geld gut gebrauchen, da reicht ihm der Vater die Gage seiner Tour, 500 Mark - schön in original Ost-Geld. Grass ist daraufhin enttäuscht über die Enttäuschung des Sohnes, belehrt ihn über die schöne symbolische Dimension der alten Währung.

Von Deutschland nach Deutschland führen den Grass des Jahres 1990 vor allem Reisen zwischen den Familien und den Frauen, insbesondere der in Berlin mit der geliebten jüngsten Tochter Nele, damals zwölf, und der Ehefrau Ute in Behlendorf. Ferienreisen mit Ute nach Dänemark werden dann wiederum zu regelrechten Beerensammelrekorden im tiefen Wald, offenbar herrscht im Haus eine bedrückende Atmosphäre. Zwar schreibt Grass schnoddrig vom "familiären Hickhack" und "diesen Müttern", aber die Sache setzt ihm zu. So zettelt er unsinnige und überflüssige Polemiken an, schreibt Briefe an Oskar und die Welt und macht ordentlich Wind, weil unter seinen Hüten und Dächern "die Luft entweder zum Atmen zu dünn oder zum Schneiden dick war", wie Lars Brandt einmal über eine ähnliche Phase im Leben seines Vaters Willy schrieb.

Es bleibt nicht aus, dass man im Wissen um die von Grass so lange verschwiegene SS-Mitgliedschaft manche Passagen anders liest. Die ständige Kritik an Amerika, die Abscheu vor den Geschäftemachern, die hohe Meinung von allem, was erdverbunden, hergebracht und handgemacht ist, das alles fügt sich zu einem reaktionären Weltbild, wie es oft bei Männern dieser Generation anzutreffen ist. Das kann auch in alte Klischees münden. Nach einem von Elie Wiesel veranstalteten Symposion in Paris macht Grass seinem Ärger im Tagebuch Luft: Einerseits sei es Wiesel ja gelungen, namhafte Persönlichkeiten nach Paris zu bekommen, "doch waren die Sponsoren seiner Stiftung, amerikanische Juden und Israelis, allzu aufdringlich in der Überzahl". In der Jugend eingeübter Antisemitismus ist offenbar auch im Alter nicht loszukriegen.

NILS MINKMAR

Günter Grass: "Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990", Steidl-Verlag, 256 Seiten, 38 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2009

Die Unke hat geirrt
Günter Grass meinte zu wissen, was die Ostdeutschen wollen müssten. Zu seinem Tagebuch aus der Wendezeit / Von Monika Maron
Am 1. Januar 1990 beschloss Günter Grass, gegen seine Gewohnheit ein Tagebuch zu schreiben, weil nach dem Fall der Mauer so Ungewöhnliches anstand, dass er sich in die Pflicht genommen fühlte. In immer neuen Anläufen wolle er die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten überschreiten, schrieb er, und sich auch in die bevorstehenden Wahlen einmischen. Jetzt, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, legt er das Ergebnis seiner Pflichterfüllung vor. Nicht um frühere Irrtümer zu bekennen und das Ausbleiben der Katastrophe zu feiern, sondern um zu bezeugen, dass er recht hatte mit seinen Warnungen und unheilvollen Vorhersagen, damals und später und heute (Günter Grass: Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 256 Seiten , 38 Euro).
Gewarnt hat er vor nahezu allem, was er mit der deutschen Einheit aufdämmern sah, und wer vor allem warnt, hat eine große Chance, in manchem recht zu behalten: Die zentralistische und intransparente Struktur der Treuhand hat Spekulanten und Seilschaften wirklich Vorschub geleistet, der unrealistische Kurs der Währungsunion machte ein Überleben der DDR-Wirtschaft endgültig unmöglich, und viele Menschen wurden arbeitslos. Das ist nicht neu und jetzt, nachdem das Chaos der ersten Jahre überwunden ist, auch nicht mehr sonderlich interessant. Interessanter ist, wie Grass selbst die DDR und ihre Bewohner damals gesehen hat. Entweder hat er bei seinen Reisen niemanden getroffen, der glücklich war über die Einheit, auch wenn er sich der Ungerechtigkeiten und Härten, die sie mit sich bringen würde, bewusst war; oder er hat ihm einen Platz in seinem ohnehin fertigen Bild einfach verwehrt.
Die Bevölkerung der DDR kommt bei Grass nur als betrogene, irregeleitete, kolonialisierte Masse vor oder in Gestalt deprimierter Bürgerrechtler, deren Traum von einer deutsch-deutschen Konföderation, der auch Grassens Traum war, von den westdeutschen Kolonialherren brutal zunichte gemacht wurde. Ein souveräner, kluger, starker Ostdeutscher, ein gleichberechtigter Partner von Günter Grass, ist in dem ganzen Buch nicht zu finden, nicht einmal als Einheitsskeptiker. Selbst die ostdeutschen Schriftsteller nimmt er nur als Opfer wahr, entweder als Opfer der Westdeutschen wie Christa Wolf, oder als Opfer ihrer eigenen, von den neuen Verhältnissen offenbar verstärkten Charakterschwächen: Heiner Müller ist lau und routiniert zynisch, Rolf Schneider wohlinformiert, nicht Fisch, noch Fleisch, Jurek Becker widersprach Reich-Ranicki nicht bestimmt genug, als der Christa Wolf attackierte, Erich Loest und Günter der Bruyn werden der Profilsucht verdächtigt, weil sie während einer Veranstaltung in der Petrikirche Wert darauf legten, anderer Meinung zu sein als Grass, als gäbe es nur unehrenhafte und nicht auch gute Gründe, ihm zu widersprechen.
Als im September 1990 der Aufbau-Verlag verkauft werden sollte (eventuell an den Holtzbrinck-Konzern), was für Luchterhand als Verlagshaus vieler DDR-Autoren bedrohlich war, schrieb Grass: „Wie werden sich Christa Wolf und Christoph Hein verhalten? Wenn sich nicht einmal diese bekannten Autoren gegen den Zugriff der westlichen Kolonialherren zu wehren wagen, wie sollte dann von der Bevölkerung Mut erwartet werden?” Inzwischen wissen wir, wie Christa Wolf und Christoph Hein sich verhalten haben; beide sind Autoren des Suhrkamp-Verlages geworden, vermutlich freiwillig.
Aber was hat Günter Grass sich bloß gedacht? Dass ostdeutsche Schriftsteller bei ostdeutschen Verlagen bleiben, ostdeutsche Betriebe nur ostdeutschen Menschen gehören und an sächsischen Universitäten nur sächsische Professoren lehren, während Volkswagen seine Werke in Asien, Amerika und sonstwo errichtet, die Bundesrepublik um indische Informatiker wirbt, die ganze Welt, um mit Günter Grass zu sprechen, sich also gegenseitig kolonialisiert? Es ist nahezu unmöglich, das Grass’sche politisch-theoretische Denkgebäude verstehen zu wollen, ohne immer wieder an der politischen Vernunft seines Architekten zu zweifeln, vor allem aber an seiner Fähigkeit oder Bereitschaft, die Wirklichkeit wahrzunehmen, auch wenn sie ihm nicht gefällt. Und zur Wirklichkeit des Jahres 1990 gehörte, dass der Preis einer deutschen Konföderation erst recht eine entvölkerte DDR gewesen wäre, es sei denn, die Mauer wäre, diesmal von den Westdeutschen, wieder errichtet worden.
Der private Günter Grass, der Vater, Reisende und Partner der Mütter seiner Kinder, hat sich einen realistischen Blick durchaus bewahrt. Eine Fahrt nach Dresden entlockt ihm einen fast depressiven Eintrag ins Tagebuch: „Die Eisenbahnfahrt allein im 1.-Klasse-Abteil. Die schmutzigen Scheiben, das gottverlassen graue Land, seine schrottreifen Industrieanlagen, die geduckten, wie zufällig gebliebenen Dörfer. Plötzlich Schneeschauer. Mein jäher Wunsch bei meinen portugiesischen Kakteen sein zu dürfen, die mir näher sind, gemessen an dieser kalten Fremde.”
Und zu Besuch in der brandenburgischen Uckermark, wo eine der Mütter günstig ein Haus erstanden hat, notiert Grass: „Baden im See. Das Publikum an der Badestelle wie aus den fünfziger Jahren . . . Viele noch junge und doch schon verfettete Frauen, die wie Seekühe lagern. Am späten Nachmittag durch den Randowbruch mit einer dicken LPG-Leiterin zu einer Koppel Haflingerpferde. Für Nele, die wie einst Laura verrückt nach Pferden ist, einen Wallach kaufen? Mir gefällt die wenig gehügelte Bruchlandschaft, arm, sandig, wie vergessen und wohl auch in Zukunft von jeglichem Wohlstand ausgeschlossen.” Zugleich aber unterstellt er, die Bewohner dieser zu ewiger Armut verdammten Gegend, zum Teil Vertriebene aus dem Stettiner Raum, seien nun gewiss, dass als Folge der deutschen Einheit demnächst Stettin wieder „uns” gehören wird. Geschichte als rückläufiger Prozess: Unkenrufe.
Die Unke hat geirrt. Zwar sind die Grenzen zwischen Stettin und seinem alten Umland durchlässig geworden, aber es sind die Stettiner, die in den vorpommerschen Dörfern leerstehende Häuser kaufen und herrichten, die Geschäfte gründen und Arbeitsplätze schaffen, und es sind Deutsche, die auf Stettiner Baustellen schwarz arbeiten, so wie polnische Bauarbeiter in Berlin.
Nun ist es ja keine Schande, sich zu irren, und so gesehen könnte Grass’ Tagebuch die Furcht eines von der Geschichte belehrten Mannes bezeugen, der mit der staatlichen Einheit Deutschlands ein Unglück hat aufziehen sehen, das dann aber zu seinem und unser aller Glück nicht eingetreten ist. Für Günter Grass aber ist es der Beweis seiner prophetischen Gabe oder nüchterner: seiner politischen Weitsicht oder ganz einfach: dass er recht hatte, wieder einmal.
Dabei tut er eigentlich selbst, was er allen anderen vorwirft: Er kolonialisiert, wenn auch nur im Geiste. Er entscheidet, wessen Meinung zugelassen wird, er weiß, was für diese leichtgläubigen, zurückgebliebenen, D-Mark-versessenen Ostdeutschen richtig ist, was sie wollen müssten und dummerweise nicht wollen, er tritt als Fürsprecher ihrer wahren Interessen auf, als wären sie selbst zu blöd, die zu artikulieren. Er entscheidet, was gelungen und was gescheitert ist. Und die deutsche Einheit ist für Grass gescheitert, heute wie damals, als er am 13. Januar 1991, endlich wieder in bei seinen portugiesischen Kakteen, in sein Tagebuch schrieb: „Sollte, wenn Lust und Zeit vorhanden, zum nächsten 3. Oktober meine ,rechthaberische‘ Bilanz ziehen.”
Und das hat er auch getan. Am 2. Oktober 1991 hat Grass in Bitterfeld eine Rede gehalten, in der von Schnäppchen, Siegern, vom Einigungsvertrag als Kolonialordnung, vom Scheitern der Einheit im Schweinsgalopp die Rede ist, vor allem aber von der Dummheit, seine, Grassens, Vorschläge zu einer behutsamen Annäherung und späteren Konföderation beider deutscher Staaten nicht bedacht zu haben. „Nein, diese Einheit ist keine Feierstunde wert”, sagte Grass, „. . . welcher geschichtsträchtige Teufel hat uns geritten, das Geschenk möglicher Einigung zu verhunzen und anstelle eine Einheit zusammenzunageln, die nur ihrem Selbstzweck Halt gibt?” Zwölf Monate nach der Vereinigung erklärte Grass den aus allen Gewissheiten und Gewohnheiten katapultierten Bitterfeldern, dass die deutsche Einheit gescheitert, sie selbst betrogen, ausgeraubt und kolonialisiert waren und obendrein dumm genug, dieses Unglück selbst gewählt zu haben.
In Bitterfeld-Wolfen wurden nach 1990 fünfzigtausend Menschen gleichzeitig arbeitslos. Die Luftverschmutzung sank innerhalb von zwei Jahren um zweiundneunzig Prozent, ausschließlich durch Stilllegung der Betriebe. Die entgiftete Luft bezahlten die Bitterfelder mit ihren Arbeitsplätzen, wie sie zuvor die Arbeitsplätze mit ihrer Gesundheit bezahlt hatten. Bis 1996 investierte die Treuhand achthundertfünfzig Millionen Mark in Abriss- und Sanierungsarbeiten, um eine Neuansiedlung von Unternehmen überhaupt zu ermöglichen. Inzwischen gehören zum Chemiepark Bitterfeld-Wolfen etwa dreihundertsechzig Betriebe mit elftausend Arbeitsplätzen. Als Retter des Chemiedreiecks in Sachsen und Sachsen-Anhalt aber gilt der Herr aller Kolonisatoren Helmut Kohl, der 1991 das Überleben der Chemieregion versprach. Elf Aquitaine baute eine Öl-Raffinerie in Leuna und Bayer Leverkusen siedelte seine Aspirin-Produktion in Bitterfeld an.
Im Jahr 2000 kamen vier Berliner Solarenthusiasten mit 60 000 Mark Eigenkapital in das Dorf Thalheim, heute ein Ortsteil von Bitterfeld-Wolfen, um da auf dem Acker eine Solarzellenfabrik für vierzig Mitarbeiter zu bauen. Daraus ist inzwischen der weltgrößte Solarzellenhersteller Q-Cells geworden, der andere Solarfirmen nachgezogen, ein Forschungs- und ein Ausbildungszentrum gegründet hat, in Halle eine Professur für Photovoltaik finanziert und mit der Fachhochschule Köthen einen dualen Studiengang betreibt. Im Solar-Valley von Bitterfeld-Wolfen arbeiten inzwischen etwa 3500t Menschen. Am Börsengang von Q-Cells waren alle Bitterfelder beteiligt, die das Werk mit aufgebaut haben, und sind dabei wohlhabender geworden, als sie es in ihrem Leben je für möglich gehalten haben. Die vereinigte Stadt Bitterfeld-Wolfen hat in ihr Wappen die Sonne aufgenommen.
Seine schlimmsten Prognosen seien übertroffen worden, sagte Günter Grass kürzlich in einem Interview mit der Zeit. Und wahrscheinlich würde er, käme er heute nach Bitterfeld-Wolfen, vor allem bemängeln, dass der Betreiber des Chemieparks aus Minden stammt, Bayer aus Leverkusen, Guardian aus den USA; vielleicht würde nicht einmal, vorausgesetzt es schiene die Sonne, die Sensation eines blauen Himmels über Bitterfeld seinen Groll vertreiben, auch nicht der große Goitzsche-See, ein gefluteter Tagebau, die hellen, rußbefreiten Fassaden der Klinkerbauten und die riesige Baustelle vom Solar Valley. Es könnte natürlich auch sein, dass er sich doch fragen würde, was damals, nach dem ersten Jahr der Einheit, eigentlich anderes hätte geschehen können, als die pausenlose Vergiftung der Stadt und ihrer Bewohner zu beenden, was eben bedeutete, die verschlissenen Anlagen stillzulegen, verfallene Gebäude abzureißen, das Erdreich zu sanieren, weil sonst Guardian, Bayer, Q-Cells und alle anderen diesen verhunzten Ort gemieden hätten wie die Pest.
Er könnte sich fragen, wie es in der Stadt heute aussähe als Teil einer eigenständigen, konföderierten DDR in einer globalisierten Wirtschaftswelt, mit einem Lastenausgleich ausgestattet, wie Grass es vorschlug, statt Solidarbeitrag und Bundeshaushalt. Er könnte sich auch daran erinnern, dass es 1945, als zwölf Millionen Vertriebene in das zerbombte, demoralisierte, schuldverstrickte Land strömten, nicht liebevoller zuging unter den Deutschen, und dass es fast sechzig Jahre gedauert hat, bis über die Verletzungen und Deklassierungen der unwillkommenen Zuwanderer aus dem Osten gesprochen werden konnte.
Fünfundvierzig Jahre nach dem Krieg sind die Ostdeutschen dazugekommen, freiwillig, in ein reiches, demokratisch verfasstes Land. Trotzdem dauert es offenbar länger, als viele, auch ich, gehofft haben, ehe die Sehnen und Nervenstränge des zerrissenen Organismus Deutschland wieder zusammenwachsen, ehe sich die verschiedenen Erfahrungen in Ost und West zur gemeinsamen deutschen Geschichte verdichtet haben. Das könnte Günter Grass mit seiner Biografie, seinen Erfahrungen und manchmal verspäteten Einsichten eigentlich wissen.
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, lebt als Schriftstellerin in ihrer Geburtsstadt. Ihr literarisches Debüt „Flugasche” (1981) handelte von der Umweltverschmutzung in Bitterfeld. 1988 verließ sie die DDR. Ihr neues Buch „Bitterfelder Bogen” erscheint im Juni im S. Fischer Verlag.
Der Preis einer deutschen Konföderation wäre erst recht eine entvölkerte DDR gewesen
Grass tut selbst, was er allen anderen vorwirft: Er kolonialisiert, wenn auch nur im Geiste
Bitterfeld, 2008 Foto: Jonas Maron
Günter Grass, 1990 Foto: Peter Peitsch
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