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Der erste Roman des Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe, der erstmals 1958 erschien, erzählt die Geschichte einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die gegen Kriegsende aus einer Besserungsanstalt in ein isoliertes Bergdorf evakuiert wird. Beeinflußt von Jean-Paul Sartre und Norman Mailer, behandelt der Autor bereits in diesem frühen Text zentrale Themen seines Werks: Gewalt, Sexualität, den Konflikt zwischen Individuum und Freiheit einerseits und Gesellschaft und Zwang andererseits.

Produktbeschreibung
Der erste Roman des Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe, der erstmals 1958 erschien, erzählt die Geschichte einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die gegen Kriegsende aus einer Besserungsanstalt in ein isoliertes Bergdorf evakuiert wird. Beeinflußt von Jean-Paul Sartre und Norman Mailer, behandelt der Autor bereits in diesem frühen Text zentrale Themen seines Werks: Gewalt, Sexualität, den Konflikt zwischen Individuum und Freiheit einerseits und Gesellschaft und Zwang andererseits.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Weg mit den Legenden
Kenzaburô Ôes beeindruckendes Romandebüt / Von Gerhard Schulz

Aus drei Gründen wird man dieses nun fast vierzig Jahre alte Buch nicht unbefangen lesen können. 1994 hat sein Autor Kenzaburô Ôe den Nobelpreis erhalten, eine Auszeichnung, deren Höhe und Autorität dem Gesamtwerk ihrer Träger stets so etwas wie ein allgemeines Gütesiegel aufzudrücken pflegt. Außerdem hat Ôe 1964, sechs Jahre nach diesem frühen Buch, ein nahezu makelloses Meisterwerk, den Roman "Eine persönliche Erfahrung", geschrieben, ein Buch über die schwere Annahme eines geistig behinderten Sohnes durch seinen Vater. Auf dem Hintergrund seiner eigenen Biographie ist das dann ein Lebensthema für Ôe geworden. Alle drei zusammen aber, Thema, Meisterwerk und Auszeichnung, sind Tatsachen, die befangen machen können beim Urteil über diesen Erstlingsroman eines Dreiundzwanzigjährigen, der jetzt zum erstenmal deutschen Lesern zugänglich wird, übrigens unter seinem halben Titel, denn der volle lautet "Reißt die Knospen ab, erschießt die Kinder". War das nur zu lang im Deutschen oder auch zu wenig käuferfreundlich?

Ôes Roman ist japanische Nachkriegsliteratur. Eine Schar von fünfzehn unterernährten, frierenden, demoralisierten Jungen aus einer Anstalt für Schwererziehbare wird während des Krieges mitten im Winter aus der Stadt evakuiert und von ihrem Erzieher in ein entlegenes Dorf in den Bergen gebracht. Argwohn und Haß der Dorfbewohner sind ihre neuen Wächter, bis die Angst vor einer eingeschleppten Seuche die Erwachsenen vertreibt. Sie riegeln das Dorf ab und überlassen die Kinder sich selbst. Ein junger desertierter Kadett stößt zu ihnen, man begräbt tote Tiere und Menschen, dringt in die verlassenen Häuser ein, geht auf Jagd und versucht zu leben und zu lieben, bis schließlich die Erwachsenen wiederkommen, um brutal zu strafen und zur Unterwerfung zu zwingen. Nur der Erzähler, einer der Delinquenten, entflieht, gejagt von den Dörflern: "Mit zusammengebissenen Zähnen stand ich auf und rannte zwischen dunkleren Zweigen hindurch, hinein in das Dickicht, in noch größere Dunkelheit." Es ist der letzte Satz des Buches.

Mit deutscher Nachkriegsliteratur, mit den ersten Büchern des jungen Heinrich Böll etwa, ist das nicht zu vergleichen. Ôe, 1935 geboren, gehört allerdings auch einer anderen Generation an, die, als sie zum Schreiben bereit war, bei den Deutschen eine geteilte Nation vor sich hatte und die Notwendigkeit zum radikalen Bruch mit der Vergangenheit. In Japan hingegen blieb das, was Ôe einmal kritisch das "Tenno-System" genannt hat, von der Niederlage im Kriege unberührt. Der junge, in westlicher Literatur bewanderte japanische Autor hatte dementsprechend andere, größere Dimensionen und Muster vor Augen. Albert Camus' "Die Pest" (1946) und insbesondere William Goldings "Herr der Fliegen" (1954), beides Bücher, die rasch zu internationalem Ruhm aufgestiegen waren, lassen sich da leicht identifizieren. Nur unternahm Ôe freilich, beide in der Darstellung des Dunklen und Bösen noch beträchtlich zu übertreffen.

Rundheraus gesagt: Dieser Roman ist eine Orgie der Gewalt, des Grausamen, Ekelhaften, Bestialischen, Barbarischen und Brutalen. Und wo Schönheit und Liebe anwesend sind, sind es die makabre Schönheit des Verfalls und die schwarze Liebe im Schatten des Todes. Von Entzündungen entstellte Augen, mit frischem Blut besudelte Kinnbacken, "fahle rötliche Kotze", die breiige Masse von "Fleisch, Blut und Körpersäften", die aus aufgerissenen Bäuchen strömt, "kraftvoll" zwischen verfallenden Schenkeln herumwimmelnde Maden, Atem, "der nach vereitertem Zahnfleisch roch" - es sind Kostproben aus einem reichen Sortiment des Widerwärtigen. Und das Schöne? Heraustretende Eingeweide scheinen "in leuchtenden Farben" auf, "goldenes Licht" spiegelt sich in ihnen, beim Reiben angeschwollener Finger im Wasser entstehen für einen kurzen Moment Regenbögen, und von einem gemarterten Körper geht "der stickige Geruch von Blut und Baumknospen aus". Womit denn auch der Titel des Buches seine Perspektive erhält.

Dergleichen ist im Grunde nicht neu, sondern aus der Geschichte des Grausamen und Häßlichen in der Kunst längst vertraut, obwohl hier von einem jungen Autor einigermaßen überdosiert. Aber dieses Grausame und Häßliche gehört auch tatsächlich zur Wirklichkeit und zum Bild des Krieges, der sich nur eben in diesem Buch nicht zwischen den Fronten kämpfender Nationen ereignet, sondern internalisiert ist in einer Dorfgemeinschaft. Krieg, Roheit und Gewalt wurzeln in der Natur des Menschen.

Es ist dieser Gedanke, durch den sich Ôes Roman wohl am stärksten Goldings Parabel vom Ausbruch der Barbarei unter einer Gruppe gestrandeter englischer Schüler nähert. Aber bei ihm erscheint am Ende kein Seeoffizier, um die Zivilisation wiederherzustellen. Statt dessen stellt Ôe den "idiotischen Erwachsenen, die von nichts eine Ahnung haben", die Kinder gegenüber als die zumindest potentiell Besseren - die wahren Delinquenten dieses Buches sind nicht die gefangenen Strichjungen, Diebe oder Totschläger, sondern ihre Wächter. Das bleibt allerdings eine schüttere Basis für moralische Urteile - denn Ôe ist ein ganz entschiedener Moralist, obwohl ihm dabei seine große Fähigkeit, von Menschen, Gefühlen, Situationen und Begebenheiten packend zu erzählen, des öfteren in die Quere kommt, auch in seinem späteren Werk übrigens. Goldings Vision vom potentiell Barbarischen in allen Menschen scheint jedenfalls im Vergleich zu Ôe die größere Weite zu besitzen.

Was bei Golding fehlt, trägt Ôe als Kind seiner Generation und wiederum in Überdosis in seine Geschichte hinein: die Verbindung von Krieg und Sexualität. Eine Schar junger Kadetten schien "vor sexueller Energie zu vibrieren" in der "extrem obszönen und sexuelle Lust ausstrahlenden Uniform des Krieges". Das nimmt groteske Ausmaße an, wenn ein junger Flieger bei einem Tiefflugangriff "im teilweise transparenten Rumpf seines Flugzeugs obszön sein entblößtes Gesäß zeigte". Bedenkt man, daß die deutsche Entdeckung kriegerischer "Männerphantasien" erst aus den späten siebziger Jahren stammt, wird man Ôe in dieser Hinsicht geradezu einen Pionier nennen dürfen. Überall im Roman wimmelt es von kleinen Penissen, "die rötlichen Aprikosen glichen", von Erektionen, die bei Diebstählen am prächtigsten sind, und von generellem nächtlichem "Keuchen und verstohlenem Rascheln". Der Situation entsprechend ist es vorwiegend Homosexualität, die hier betrieben wird. Nur der Erzähler findet ein einziges Mal in Nacht und Kälte "hastigen Kontakt mit der kalten, papiertrockenen Oberfläche des Geschlechts" eines kranken Mädchens, das neben seiner toten Mutter im Dorfe geblieben war und ihr bald selbst nachfolgen wird.

Ô es Roman ist die Arbeit eines sehr jungen Mannes, der sich erst seiner Gedanken wie seiner Werkzeuge vergewissern will. Aber es ist zugleich auch schon das Werk eines Erzählers, dem man - Nobelpreis hin, Nobelpreis her - zuzuhören genötigt ist allein durch die Kraft und Anschaulichkeit seines Erzählens. Es gibt starke Bilder und bewegende Situationen in diesem Buch, die in Erinnerung bleiben, zum Beispiel der Versuch des Jungen, für seine kranke Liebe die Barrikaden der Dorfbewohner zu überwinden, um - vergeblich - Hilfe für sie bei einem Arzt zu suchen. Es gibt keinen Arzt für die Leiden, über die hier berichtet wird. So stemmt sich schließlich auch der Junge den Dörflern entgegen, die nach ihrer Rückkehr den ganzen Vorfall zur "Geschichte einer Naturkatastrophe, nicht unähnlich einer Legende" umlügen wollen. Literatur als Zerstörerin von Legenden - das war kein schlechtes Programm für einen Dreiundzwanzigjährigen auf dem Weg zum Weltruhm, von den Kindern zum einen, eigenen Kind, auch wenn dieser Weg über manche Unebenheiten führte.

Kenzaburô Ôe: "Reißt die Knospen ab . . .". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Otto Putz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 222 S., geb., 36,- DM.

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