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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2010

Drückend
Herta Müller liest aus den „Niederungen”
Als dieses Buch im Jahr 1982 in Bukarest erschien, lebte die in Nitzkydorf geborene Autorin noch im kommunistischen Rumänien. Vier Jahre hatte das Manuskript beim Verlag gelegen, nur eine stark zensierte Fassung konnte erscheinen. Der Berliner Rotbuch-Verlag brabrachte 1984 eine überarbeitete Fassung heraus. Nach „Niederungen” konnte Herta Müller in Rumänien nicht mehr veröffentlichen. Sie war fortan Verhören, Hausdurchsuchungen, dem gesamten Repertoire an Zersetzungsmaßnahmen durch die Securitate ausgesetzt, bis sie 1987 nach Deutschland übersiedelte.
Gemeinsam mit Marlen Diekhoff und Albert Kitzl liest die Nobvelpreisträgerin Herta Müller nun vier Erzählungen aus der erweiterten Neuasgabe des Bandes (Herta Müller: Niederungen. Eine Auswahl. Gelesen von Marlen Diekhoff, Albert Kitzl und Herta Müller. 3 CD, 225 Minuten. Hörbuch Hamburg, 19,95 Euro). Es geht um Kindheit und Familie auf dem Lande, aber es wird kein Idyll daraus, sondern ein Panorama menschlicher Enge und Schäbigkeit. „Die Grabrede” heißt die erste Erzählung. Die Erzählerin soll auf der Beerdigung ihres schuldbefleckten Vaters reden, des Vaters, der viele Tote auf dem Gewissen hat. Ihr fällt, so der Traum, nichts ein.
Viele Banater Schwaben empfanden die Beschreibung ihres Lebens durch Herta Müller als „Nestbeschmutzung”. jby
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2010

Im deutschen Frosch steckt kein Prinz

Der Teufel im Satzspiegel: Erstmals liegt die vollständige Fassung der "Niederungen" vor. Mehr denn je liest sich Herta Müllers berühmtes Debüt als Schlüssel zu einem Werk, das Aufklärung und große Literatur zugleich ist.

Herta Müllers erster Prosaband "Niederungen" spiegelt nicht nur in Form und Inhalt, sondern peinlich auch in der Publikationsgeschichte die Lebensumstände der Autorin. 1982 erschien in Bukarest die lange verhinderte erste Buchfassung, die trotz der erheblichen Eingriffe der Zensur in der deutschsprachigen Literaturkritik Rumäniens als so kunstvoller wie widerständiger Text wahrgenommen wurde. Nicht nur die "außerordentliche Plastizität der Sätze", die "Genauigkeit der Benennung" und die "makellose, rhythmisch durchgestaltete" Sprache erregten Bewunderung, sondern merkwürdig verquer formuliert auch der Versuch, "gegen die Wirkungslosmachung von Literatur bei uns anzukämpfen".

Gleichzeitig aber riefen die Texte des Bändchens schon die Aggressionen und Verleumdungen hervor, unter denen Herta Müller lange zu leiden hatte. 1981 war in der "Neuen Banater Zeitung" das kurze Stück "Das schwäbische Bad" vorab erschienen. In lakonischer Wiederholung wird darin das samstägliche Reinigungsritual, in dem die Familienmitglieder nacheinander "graue Nudeln" von sich abreiben, während das langsam abkühlende Wasser seine Farbe augenfällig verändert, zu einer komisch-ekelhaften Allegorie des banatschwäbischen Dorflebens: "Die Nudeln der Mutter, des Vaters, der Großmutter und des Großvaters kreisen über dem Abfluss." Die offenkundige Satire wurde als "Greuelmärchen aus Nitzkydorf" gelesen und brachte der jungen Autorin in den Blättern der deutschen Minderheit wüste Beschimpfungen im Vokabular des gesunden Volksempfindens ein.

Das wurde später von den landsmannschaftlichen Zeitschriften der Bundesrepublik überboten. Unter dem Titel "Eine Apotheose des Hässlichen und Abstoßenden" druckte "Der Donauschwabe" an Weihnachten 1984 eine hasserfüllte Besprechung der westdeutschen Ausgabe der "Niederungen", in der behauptet wurde, die Autorin sei "eine der wertvollsten Mitarbeiterinnen der Bukarester ZK-Propagandaabteilung" und betreibe "den Abbau und Zerfall des Deutschtums". Überdies erfreute sich der Autor an der Vorstellung, dass Herta Müller gehenkt worden wäre, hätte sie ähnlich über "ihre rumänischen Mitbewohner" geschrieben. Da war sie schon jahrelang vom Geheimdienst gequält worden, gerade weil sie sich geweigert hatte zu kooperieren.

Die "Niederungen" gingen der Autorin in die Emigration voraus, und wie später sie wurde der Text im Rotbuch-Verlag als unmündig behandelt. Die Lektorin nahm vier Stücke heraus, kürzte innerhalb der Texte und veränderte die Reihenfolge. Verunsichert, wie Herta Müller damals war, glaubte sie, sich dagegen nicht wehren zu können. Trotz dieser neuerlichen Eingriffe wurde das Werk von Friedrich Christian Delius im "Spiegel" als "mitreißendes literarisches Meisterstück" bezeichnet. In der Folge erging sich die Kritik in der Feier der "ungeheuren sprachlichen Kraft" der Autorin. Das Staunen äußerte sich freilich nicht selten in einem Exotismus, der das Neue dieser Schreibweise als ein Fremdartiges auf die Herkunft zurückführte und damit auf jene stammesgeschichtlichen Prägungsvorstellungen, die im Buch als repressiv erscheinen.

Nicht nur angesichts dieser Publikationsgeschichte ist die Veröffentlichung der vollständigen und durchgesehenen Fassung Aufforderung zu erneuter Lektüre. In "Niederungen" erfährt der Leser sinnfällig, wie sich Herta Müllers Schreibweise gebildet hat. Denn ihre "erfundene Wahrnehmung" lässt sich nicht aus hergebrachten literarischen Mustern erklären, sosehr sich auch der Leser an Verfahrensweisen des Symbolismus und Surrealismus erinnert fühlen mag. Sie geht auf Seherlebnisse und Selbstbehauptungserfahrungen unter tatsächlichen gefährlichen Bedingungen zurück. In den Bildern des Dorflebens vermittelt sich, was die gewaltsame Durchsetzung von Gleichförmigkeit den Menschen und Dingen antut. Die Darstellung der Beziehungen zwischen Menschen zeigen das Dorf als Präfiguration der Diktatur, denn Überwachung verengt den Raum und erzeugt eine fiktive Wirklichkeit. Was Herta Müller dagegen als "Diskurs des Alleinseins" bestimmt hat, erscheint als sprachliche Form des Standhaltens der Macht gegenüber trotz der sozialen Angst, wie sie bereits im ersten Stück "Die Grabrede" in albtraumartig transitorischen Bildern sichtbar wird.

Die Erfahrung des banatschwäbischen Dorflebens als Mikrokosmos des totalitären Systems äußert sich immer wieder in der ambivalenten Bildlichkeit des Blicks und der Augen. "Alle sahen mich an. Es fiel mir kein Wort ein. Die Augen stiegen mir durch die Kehle in den Kopf." Indem das Wort schließlich doch dasteht, erscheint Schreiben als Widerstand gegen die Angst. Im parataktischen Stil, in Sätzen, die Herta Müller selbst als abgehackt bezeichnet, sträubt sich eine bis zum Äußersten sensibilisierte Wahrnehmung gegen verordnete Harmonie. Nicht selten in beklemmender Komik: "Vater singt, Vaters Gesicht fällt singend auf den Tisch, verdammt noch mal, wir sind eine glückliche Familie." In der Sprache Herta Müllers führen so die Dinge der umgebenden Welt und auch der Natur ein Eigenleben. "Spät im Herbst, wenn das Dorf bereits kahl ist, stehen die Bäume wie riesige Besen da, nehmen die Wolken der Reihe nach herab in ihre harten Äste, und der Nebel, der sich bildet, hält die Häuserspitzen tagelang im Trüben, so dass die Häuser keine Dächer haben, wenn man vorübergeht." Der Besen aber ist ein Attribut der mütterlichen Machtausübung wie des dörflichen Sauberkeitswahns, er gibt den Schutz des Daches über dem Kopf und nimmt ihn wieder. Im Schreiben werden solche bezeichnenden Dinge aus dem falschen Zusammenhang herausgetrennt. So ist schon der Text der "Niederungen" wie später die Romane durchzogen von den Motiven des Messers und der Schnitte, die auf Herta Müllers Vater zurückgehen, der mit Günter Grass in der Waffen-SS diente. Betrunken nimmt er, die alten Lieder singend, "das Messer aus der Schublade, das größte Messer, und ich kriege Angst vor seinen Augen, und das Messer zerschneidet alles, was ich denken will".

In den Dingen hausen die Verbote als Dämonen: "Der Teufel sitzt im Spiegel." Die Bedrohung des Kindes erscheint in poetischen Wendungen und Sprichwörtern, die an das Volksmärchen erinnern. Im allgegenwärtigen "deutschen Frosch" aber steckt kein Prinz, er ist die Inkarnation aller Unterdrückung, so hat auch die Mutter aus dem sowjetischen Straflager einen mitgebracht. Der deutsche Frosch glotzt schon hinaus aus dem Dorf und bereitet die Erzählerin auf die Augen des rumänischen Diktators vor. Er kann sich allerdings auch, das wurde dem Leser der ersten Ausgaben unterschlagen, in einen verwandeln, der sich erdreistet, eine Meinung zu haben, was ihm nicht bekommt.

Aus dem Anblick der Augen der Macht resultiert für Herta Müller "der wachsame Blick" bei allem, was man sieht. Dieser Blick erfasst die Schönheit der Dinge, aber zugleich die Gewalt, die in ihnen lauert. So gibt es in dem titelgebenden Stück hinreißende, zum Weinen schöne Landschaftsbeschreibungen, botanisch präzise und sinnlich bis in die feinsten Nuancen von Geruch und Geschmack, doch nie ohne latente Bedrohung. Noch die Tod, Erotik und Ästhetik verschwisternde Phantasie der Auflösung in der Natur und des Entrinnens ins Nichtmenschliche aber verwandelt sich in ein anrührendes Bild des Standhaltens auch dem gespenstischen Umzug der Stimmen im eigenen Bewusstsein gegenüber. "Ich legte mich ins hohe Gras und ließ mich in die Erde rinnen. Ich wartete, dass die großen Weiden zu mir über den Fluss kommen, dass sie ihre Zweige in mich schlagen und ihre Blätter in mich streuen. Ich wartete, dass sie sagen: Du bist der schönste Sumpf der Welt, wir kommen alle zu dir. Wir bringen auch unsere großen schlanken Wasservögel mit, aber die werden flattern in dir und in dich hineinschreien. Und du darfst nicht weinen, denn Sümpfe müssen tapfer sein, und du musst alles ertragen, wenn du dich mit uns eingelassen hast."

Die letzten Stücke des Bandes führen aus dem Dorfleben und der ländlichen Umgebung heraus. Die damalige Kürzung verfälschte die Komposition wie den Sachgehalt, weil drei dieser Stücke schon die üble Bekanntschaft mit der rumänischen Diktatur, "das richtig Zuschlagende" ihrer Organe, reflektieren, das Herta Müller während ihres Studiums in Temeswar und als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik erleben musste. Der "einem Inspektor" gewidmete Text "Inge" verlässt nicht von ungefähr die Ich-Erzählung, denn er ist ein ins Absurde getriebener Gruß an den Geheimdienst. Dass die "Lektorin" des Rotbuch-Verlags ihn unterschlug, kam einer Wiederholung der Zensur gleich.

Erst in der nun vorliegenden Ausgabe kann der Leser ganz nachvollziehen, wie das Schreiben Herta Müllers aus dem Verschweigen entstanden ist und welcher Fluchtlinie es folgt. Aus dem Wissen darum, was man nicht sagen kann, außer um den Preis von Ausgrenzung und Vernichtung, entfaltet sich in "Niederungen" eine Erzählstrategie, die sich als radikal persönliche verordneter Wahrnehmung widersetzt und es so ermöglicht, über die tatsächlichen Verbrechen der Diktaturen ohne die falsche Allgemeinheit nachträglichen Bescheidwissens zu reden. Mehr denn je liest sich Herta Müllers Erstling nun als Schlüssel zu einem Werk, das wie kein anderes Aufklärung zugleich und große Literatur ist.

FRIEDMAR APEL

Herta Müller: "Niederungen". Prosa. Hanser Verlag, München 2010. 176 S. geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Friedmar Apel feiert die nun erstmals vollständig und unverfälscht vorliegende Ausgabe von Herta Müllers Prosadebüt "Niederungen" als "Schlüssel" zum Gesamtwerk der Nobelpreisträgerin. An diesem Band lässt sich die üble Publikationsgeschichte von Zensur und Bevormundung von Herta Müllers Werk sowohl unter der rumänischen Diktatur wie im westdeutschen Rotbuch-Verlag mit seinen massiven Eingriffen in die Texte exemplarisch ablesen, erklärt der Rezensent. Jetzt kann man, wie der begeisterte Apel betont, die vervollständigte Fassung in der von Müller vorgesehenen Reihenfolge lesen, in der auch die Stücke enthalten sind, die über den in den anderen Texten als einzigen Handlungsort erscheinenden banatschwäbischen Dorf hinausführen und direkte Erfahrungen mit dem rumänischen Staatsapparat verarbeiten. Das Schreiben Müllers, die manche Leser an symbolistische oder surreale Erzählweisen erinnert, zeigt sich hier deutlich als "Widerstand gegen die Angst" und Selbstbehauptungsstrategie, wobei es insbesondere die Landschaftsbeschreibungen sind, die den Rezensenten nachhaltig berührt und mitgerissen haben. Mit diesem Band kann man nun endlich Müllers Entwicklung als Schriftstellerin "ganz nachvollziehen", als Schreiben darüber, was man nicht äußern durfte und als "radikal persönliche" Form der Wahrnehmung, die sich verordnetem Denken widersetzt, so Apel beeindruckt.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Wer so wie Herta Müller zu formulieren versteht, versteht nicht nur viel von Literatur, der ist wohl. wie man einst sagte: ein Dichter. In unserem Fall: eine Dichterin. Ulrich Weinzierl, FAZ